Reise Welt

In den Schluchten des Taurus

Die Türkei ist die Brücke zwischen Europa und Asien, die Schnittstelle zwischen Abend- und Morgenland. Vor allem der Süden des Landes leidet aber unter seinem All-Inclusive-Image und wird vielleicht deswegen von Paddlern relativ wenig beachtet. Zu Unrecht, denn er bietet erstklassiges Wildwasser (Text: Mike Krutyansky).

Sergey Khvostenko und Olena Yankovskaya

In der Türkei gibt es zwei Haupt-Wildwasserregionen. Da ist zum einen der Nordosten. Diese Gegend grenzt an Georgien, ihre Flüsse werden durch Schnee und Regenstürme vom Schwarzen Meer gespeist. Die Berge und Flüsse hier sind ihren georgischen Nachbarn sehr ähnlich – und erinnern auch an manche Alpenregion. Die Saison beginnt hier Ende März und dauert bis Ende Mai. Vor allem der Fluss Firtina mit seinen Nebenflüssen ist ein wahres Juwel und eignet sich für Kajakfahrer aller Klassen, vor allem aber für solche der Klasse IV+.

Der Süden

Zum anderen – und vor allem – zieht die südliche Region um Antalya Wildwasserkanuten in ihren Bann. Ihr Image wird von All inclusive-Pauschalreisen und den entsprechenden Touristenburgen bestimmt. Das trifft auch teilweise zu, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Hinter der Küste ragt das mächtige Taurusgebirge in die Höhe, schroffe Landschaften aus Karstkalkstein mit tiefen Schluchten und großen Plateaus. Es ist warm. Die Saison ist hier der Winter und der frühe Frühling. Die Flüsse werden hauptsächlich durch Regen gespeist.
Die Mittelmeerküste der Türkei blickt auf eine ereignisreiche und lange Geschichte zurück. Viele Jahrhunderte lang stand sie unter griechischer Herrschaft, und dieses Erbe ist bis heute an vielen Stellen zu sehen. Zahlreiche Sehenswürdigkeiten und Städte haben noch die alten Namen, ebenso wie die Flüsse.
Auswärtige Kajakfahrer erkunden die Berge im Süden seit mindestens 1980. Erstaunlich also, dass es bis heute kaum eine nennenswerte einheimische Wildwasser-Gemeinschaft gibt – und das, obwohl der Köprüçay-Fluss die »Arbeitsstelle« für Dutzende von Rafting-Unternehmen ist. Serkan Konya ist der bekannteste türkische Kajakfahrer. Er hat eine Reihe von Wildwasser-Abschnitten in der Region entdeckt und ist der Mann mit der besten Ortskenntnis und Erfahrung. Der deutsche Kajakfahrer Christoph Scheuermann ist seit den späten 1990er und 2000er Jahren in der Region sehr aktiv. Er hat hier eine Reihe von Erkundungstouren gemacht und sich in die Gegend verliebt. Seine Firma »Toros Outdoors« benannte er nach den hiesigen Bergen, und er veranstaltet bis heute Paddelreisen in die Türkei, nach Georgien und in andere Länder (www.toros-outdoors.de).

Zerstörung durch Dämme

Doch leider rückten in den Jahren darauf die Bulldozer an. Dämme schossen aus dem Boden. Im Süden wie im Norden. Das geschieht zwar fast überall auf der Welt, aber in der Türkei ist es noch nicht so lange her – und die Auswirkungen waren besonders schwerwiegend. Im Gegensatz zur Situation in den Alpen wird in der Türkei ein Fluss komplett von oben bis unten zerstört, so dass riesige Seen entstehen und kaum noch Wasser durch das Flussbett fließt. Wenn man durch die nördliche Region Rize fährt, kann man die Macht der Industrie und die Verwundbarkeit der Natur mit eigenen Augen sehen. In vielen Tälern sind die Arbeiten noch im Gange, obwohl die Flüsse bereits zerstört sind. An jeder Ecke gibt es Zement- und Kiesfabriken – ein Anblick, bei dem sofort der Wunsch aufkommt, das Tal zu verlassen und weiterzuziehen.
Im Süden sind die Täler tiefer und die Straßen länger, so dass schon ein kurzer Blick auf Google Earth ausreicht, um ganze Täler und Gebiete von der Reiseroute auszuschließen.
Das alles klingt deprimierend. Kein Wunder, dass einige Gruppen, die zu Zeiten des intensivsten Wasserkraftwerk-Baus in die Türkei reisten, das Gerücht in die Welt setzten, dass das Wildwasser-Paradies der Vergangenheit unwiderruflich und komplett zerstört sei. Viele Kajakfahrer hörten darauf und kamen gar nicht mehr in die Türkei.

Krone mit drei Zinken

Doch allen Unkenrufen zum Trotz gibt es noch frei fließende Flussabschnitte. Und diese Abschnitte, diese unberührten Oasen sind kostbar! Der Autor dieser Reportage, Mike Krutyansky, und Evgeniy Smirnov waren überrascht, in der türkischen Provinz Antalya ein wahres Winterparadies zu finden. Seit Anfang 2021 sind mehr als zehn Gruppen ihrem Rat gefolgt und kamen, um die dreifache Krone der Mittelmeerküste zu paddeln: den Köprüçay, den Alara und die Mutter aller türkischen Flüsse, den mächtigen Manavgat.

Der Köprüçay

Dieser Fluss ist berühmt für den kommerziellen Abschnitt der Klasse II+, aber nur wenige wissen, dass sich direkt darunter ein fantastischer Canyon der Klasse V mit einigen großen Stromschnellen, kräftigen Boofs, den ultimativen Must-Runs und, bei bestimmten Wasserständen, Siphons befindet. Der Köprüçay ist ein wahres Juwel, denn er ist im Winter und im Frühjahr jederzeit befahrbar. Den Abschnitt der Klasse II+ kann man das ganze Jahr über unters Boot nehmen. Oberhalb des kommerziellen Abschnitts gibt es eine Reihe riesiger Canyons mit 500 Meter hohen, senkrechten Wänden, die noch nicht entdeckt wurden.

Der Alara

Ein klassischer, frei fließender Fluss in der Schlucht. Er hat eine Reihe von Abschnitten der Schwierigkeitsgrade II+ bis IV+ mit manchmal kompliziertem Zugang. 55 Kilometer Kajakfahren vom Feinsten! Das Sahnestück sind die »Roadside Narrows«. Sie ähneln der Kaiser-Klamm in Österreich und eignen sich perfekt für Wildwasser-Rennen und Kurse für Fortgeschrittene, wenn der Wasserstand niedrig ist.

Der Manavgat

Das wahre Herz des türkischen Wildwassers. Der Fluss weist einen riesigen Damm am Ende und einen kleinen Damm an einem der Nebenflüsse auf, aber nichtsdestotrotz hat er sieben verschiedene Abschnitte zu bieten! Die oberen davon sind nur bei einer ganz bestimmten Wassermenge befahrbar und haben einige Abgründe und Katarakte der Klasse V. Nicht gerade Stellen, die oft befahren werden!
Nach einem schönen Abschnitt der Stufe III kommt der Höhepunkt, der dramatischste Akt des Manavgat-Dramas: der untere Canyon, ein Klasse V-Pool-Drop-Run in einer tiefen Schlucht, so gut, wie man es sich nur vorstellen kann! Bei einigen Wasserständen geht hier so ziemlich alles. Das große Geheimnis: ein unterirdischer Nebenfluss, der fünf bis 30 Kubikmeter pro Sekunde Wasser führt. Dieser Fluss entspringt 100 Kilometer entfernt in einem See und taucht sofort in den Untergrund ein. Er hat nicht einmal ein Tal!
Dank dieses unterirdischen Nebenflusses ist der fantastische Klasse IV-Auslauf der Schlucht die ganze Saison über befahrbar. Ein perfektes, ganztägiges Abenteuer der Klasse IV (IV-) für fortgeschrittene Gruppen.
Wenn der Fluss nach der Schlucht flacher wird, ist es noch nicht vorbei. Es folgt noch ein kurzer, aber intensiver Canyon bis zum Staudamm. Dieser Canyon wurde bislang nur ein paar Mal befahren, unter anderem von Mike und Evgeniy im Jahr 2021. Er hat riesige Stromschnellen der Klasse V+ mit großem Volumen, monstermäßige Siphons und einen guten, alten, hundertprozentigen Must Run direkt am Ausgang.

Südtürkei: Manavgat

Von der Küste in die Berge

Alle diese drei Flüsse werden durch Regenfälle, ein reichhaltiges Grundwassernetz und durch die Schneeschmelze gespeist. Sie fließen nur langsam ab, so dass nach den ersten größeren Regen- und Schneefällen der Saison jederzeit genügend Wasser zum Paddeln vorhanden ist. Neben diesem »Triumvirat« gibt es noch einige kleinere Bäche, die nur nach starken Regenfällen befahrbar sind.
Am besten bucht man sich für eine Wildwasser-Reise der Grade II+ bis IV eine Unterkunft an der Küste und fährt jeden Tag die verschiedenen Täler hinauf. Zelten ist auch möglich, aber in den Bergen kann es kalt und regnerisch/schneereich werden. Für eine Reise der Klasse IV bis V ist dies aber die bessere Alternative, da die schwierigeren Abschnitte oft höher gelegen sind. SUV und Vierrad-Antrieb werden empfohlen. Es kann hier oben nämlich ziemlich unwegsam werden. Nicht nur auf dem Wasser.

Wildwasser-Reisen in die Türkei

Der Autor dieser Reportage, Mike Krutyansky, organisiert auch im Frühling 2023 Wildwasserkurse und -reisen in der Türkei. Die genauen Termine: 1. bis 8. April, 8. bis 15. April, 29. April bis 7. Mai. Wer Interesse hat, kontaktiert ihn unter der E-Mail-Adresse mike.krutyansky@gmail.com, whatsapp +972528834617.