Reise Welt

Showdown in der Schlucht

Es soll immer wieder Gäste geben, die gleich nach der Landung des Wasserflugzeugs eingeschüchtert verkünden, dass sie nicht böse wären, wenn die Tour jetzt, noch bevor sie eigentlich begonnen hat, schon wieder zu Ende wäre. Aber der South Nahanni River in den kanadischen Northwest Territories überzeugt sie alle.

Destination Canada

Ankunft am South Nahanni River. Selten hat eine Rafting-Expedition einen derart furiosen Auftakt. Von Fort Simpson aus flogen wir zunächst zum Nahanni National Park Reserve in der Südwestecke der Northwest Territories. Am Ende stießen wir durch die graue Wolkendecke, und richtig, da floss der South Nahanni River, unsere Heimat für eine gute Woche, am Boden einer tiefen, fast schwarz gähnenden Schlucht. Im Tiefflug folgten wir ihm flussaufwärts, die Nasen gegen die Fenster gepresst und, das sei gern zugegeben, etwas besorgt die dunklen Berge über uns im Auge behaltend. Dann kamen die Virginia Falls in Sicht. Unter uns das tobende Inferno, kratzten wir die Gischtwolke dieser gewaltigen Fälle mit den Schwimmern, so dass der Buschpilot den Scheibenwischer einschaltete. Zuletzt, in gerade 100 Metern Höhe und umzingelt von steilen Bergen, legte sich die DHC-6 Twin Otter, als Zugabe gewissermaßen, derart in die Kurve, dass wir beinahe senkrecht auf den Fluss hinab blicken konnten.

Bei den tosenden Virginia Falls stürzt der Fluss 96 Meter in die Tiefe. Foto: Darren Roberts Photography

Ohne Schweiß kein Preis

Wow. Wir sind im Adrenalinrausch. Was kommt nächstes? Unsere Guides Liz und Alaina freuen sich über unsere Euphorie und klettern über die Säckestapel zur Ausstiegsluke. Soeben ist unsere Twin Otter oberhalb der Victoria Falls gelandet, nun wird sie von den beiden am Steg vertäut. Der South Nahanni River ist das Herzstück des Nahanni National Park Reserve. Von den Mackenzie Mountains an der Grenze zum Yukon Territory fließt er 580 Kilometer in südöstlicher Richtung über das Nahanni Plateau, bis er bei der Dene-Siedlung Nahanni Butte in den Liard River mündet. Mit heißen Quellen, den spektakulären Virginia Falls und vier aufeinander folgenden, geologisch einzigartigen Schluchten mit bis zu 1200 Meter hohen Wänden hat er zur Beförderung des Parks zum UNESCO Weltnaturerbe beigetragen. Als Kanu- und Rafting-Mekka galt er da schon längst: Bis heute führt jeder Paddler, der etwas auf sich hält, den South Nahanni auf seiner Bucket-Liste.
Wir wollen die 240 Kilometer durch die Canyons bis nach Nahanni Butte zurücklegen. Sieben Tage soll das dauern. Doch vorher müssen wir die gesamte Ausrüstung – zwei Rafts plus Gestelle, Proviant in Fässern, Zelte und persönliche Habe in wasserdichten Säcken – in bereitstehenden Schubkarren um die Fälle herum zum gut 140 Meter tiefer liegenden Einstieg karren. Wir, vier Männer ohne Wildniserfahrung und in mittelprächtiger Verfassung, schaffen auf dem in Serpentinen nach unten führenden Plankenweg jeweils zwei, drei Schubkarren und kriechen abends um acht völlig erledigt in die Zelte. Unsere  Guides Liz und Alaina sind noch bis weit nach Mitternacht unterwegs.

Eine uralte Landschaft

Showtime. Sabbernd kaut das sedimenthaltige Wasser an den Rafts. Liz und Alaina legen sich in die Riemen. Unterhalb der Fälle nimmt der South Nahanni schnell Fahrt auf, beschleunigt von den Canyons und zahlreichen Klasse-III-Stromschnellen. Das bekommen wir schon beim Abstoßen zu spüren. Kaum plumpsen wir auf die Bänke, hat er uns schon 50, 60 Meter flussabwärts getragen.
Die Stromschnellen und stehenden Wellen im Fourth Canyon sind wegen der steilen Wände und scharfen Biegungen schwer zu scouten, doch unsere Guides kennen den Fluss wie ihre Westentasche. Die Rafts flink in den richtigen Winkel gedreht und ab durch rauschendes H2O, das uns auf Wellenberge katapultiert und in den Tälern dahinter aus den Sitzen wuchtet: Schon jetzt sind wir froh, nicht in einem wackligen Kanu zu sitzen. Unsere Rafts brettern durch alle Unbilden wie schwere SUVs. Schnell finden wir die Muße, den Fourth Canyon auf uns wirken zu lassen. Braun, grau und oft fast schwarz schießen seine Wände aus dem Wasser. Der Himmel über uns ist nur ein handtuchbreiter Streifen. Sein schleifenreicher Verlauf macht den South Nahanni einzigartig. Schon vor über 500 Millionen Jahren schlängelte er  sich hier durch die – damals tropische – Landschaft. Als sich später ringsherum die Berge erhoben, behielt er seinen Lauf bei und vergrub sich in tiefen Canyons. Von der letzten Eiszeit blieb der Abschnitt, auf dem wir uns jetzt befinden, verschont. »Ihr treibt durch eine der ältesten Landschaften des Kontinents«, referiert Liz, während sie das Raft Richtung Ufer dreht. Die dünn bewachsene Kiesbank hinter dem Wrigley Creek ist unser erster Lagerplatz.

Immer besser, immer schöner

Piano, langsam anschwellendes Crescendo, Fortissimo: Unsere Reise auf dem Fluss ist ähnlich strukturiert wie unser Anflug. Je länger sie dauert, desto beeindruckender und schöner wird sie. Wir meistern die Tricky Currents, einen lang gezogenen, das rechte Ufer begleitenden Whirlpool, der unsere Rafts fast stoppt, während der Fluss linkerhand scheinbar ungestört weiter fließt. Highlights und Fotomotive überbieten einander. Da ist The Gate, ein 460 Meter hoher Felsen aus Karst und Kalkstein in einer engen Haarnadelkurve, der den Eingang zum 30 Kilometer langen Third Canyon bewacht. Das Farbenspiel im Third Canyon, dessen lange, vielfarbig gestreiften Steilhänge aus Schiefer, Sand- und Kalkstein wie psychedelische Land Art aussehen, ist eine Wucht.
Abends am Lagerfeuer beobachten wir Schwarzbären am anderen Ufer. Im Second Canyon entdecken wir  schneeweiße Flecken über unseren Köpfen: kein Schnee, sondern Dall-Schafe, manche auf schmalen Felsvorsprüngen, die kein Profi-Kletterer erreichen würde. Das Beste aber bewahrt sich der South Nahanni bis zuletzt auf. Über ein Waschbrett namens George’s Riffle geht es zwischen den 1200 Meter hohen Kalksteinfelsen des First Canyon hindurch. Majestätische, zeitlose Schönheit umfängt uns, drückt uns an sich, raubt uns den Atem. Ehrfürchtig schweigend treiben wir flussabwärts, durch schattige Biegungen zu immer neuen Überraschungen. Und in den Kraus Hotsprings, einem Becken heißer Quellen unmittelbar am Ufer, genießen wir ein Hochgefühl, dass man nur nach sechs Tagen ohne Dusche derart genießen kann.
Nur ein paar Hundert Besucher verzeichnet der Nahanni National Park im Jahr. Die meisten fliegen für einen Tag herein, um die Victoria Falls zu sehen. Der unbedeutende Rest geht aufs Wasser. Es heißt, man war nicht wirklich auf dem Fluss, wenn man nicht wenigstens eine gute Bärengeschichte mitbringt. Unsere erleben wir während der zweiten Nacht. Um zwei Uhr morgens streicht etwas um die Zelte. Ein dicker Ast knackt, etwas schrammt die Außenhaut entlang. Typische Bärengeräusche. Dann schlägt es, tap tap tap, so kräftig auf das Vorzelt, dass der Puls auf 120 schießt. Kühl bleiben, schießt es einem durch den Kopf, was tun, was tun, bloß keine Panik. Doch das ist leichter gesagt als getan. Dann geschieht ein Wunder. Der Bär spricht: »Kommt raus! Nordlichter!« Erleichtert fluchend schälen wir uns aus den Schlafsäcken.

Reiseinfo

Der South Nahanni River entspringt in den Mackenzie Mountains, genauer gesagt am Südhang des Mount Christie in einer Höhe von etwa 1600 Metern. Auf einer Länge von zehn Kilometern bildet er danach die Grenze zwischen den Northwest Territories und dem Yukon Territory. Weitere Stationen: die Selwyn Mountains, die Vampires Peaks Range und der Nahanni National Park, in dem der Fluss den 96 Meter hohen Virginia Falls-Wasserfall hinab braust. Nach etwa 563 Kilometern mündet der South Nahanni River schließlich bei der 115-Einwohner Gemeinde (Stand 2006) Nahanni Butte in den Liard River. Auf dieser Strecke hat er einen Höhenunterschied von etwa 1250 Metern bewältigt.

Anbieter von Raft- und Kanutouren auf dem South Nahanni River: Nahanni River Adventures & Canadian River Expeditions, https://nahanni.com. Buchbar in Deutschland bei SK Touristik, www.sktouristik.de. Wer das Metier beherrscht, kann den South Nahanni natürlich auch im Canadier oder Kajak hinabfahren. Weitere Infos dazu: www.kanumagazin.de/reise/south_nahanni_river/

Weitere Infos über die Northwest Territories: Spectacular Northwest Territories, www.spectacularnwt.de

Der South Nahanni River ist, entsprechende Erfahrung vorausgesetzt, natürlich auch mit Canadier oder Kajak befahrbar. Foto: Angela Gzowski