Reise Welt

Wild, wuchtig, weit von allem

Der Sarydschas in Kirgistan: ein Fluss der fünften Wildwasser-Kategorie, kaum bekannt und weitab von der Zivilisation. Wer hier paddeln will, muss auf alles gefasst sein – das erlebten Adrian Mattern und seine Crew bei ihrer Expedition am eigenen Leibe (Text: Tarquin Cooper).

David Sodomka

Noch nie vom Sarydschas gehört? Kein Wunder. Wir haben es hier nicht mit dem Nil oder dem Amazonas zu tun und schon gar nicht mit der Donau oder dem Mississippi. Dafür liegt der Sarydschas zu sehr am Ende der Welt. Außerdem gehört er unbestritten zur Wildwasser-Kategorie 5, und das bedeutet, dass gefährliche Stromschnellen hier die Norm sind. Eigentlich sogar, dass man sich hier an der Grenze der Befahrbarkeit bewegt. Der Sarydschas hat seinen Ursprung am Semjonow-Gletscher, weit im Osten von Kirgisistan. Danach bahnt er sich seinen Weg durch die Tienschan-Gebirgskette Richtung China. Ein Ort, so abgeschieden und unwirtlich für seine Besuchern wie kaum ein anderer. Nur eine Handvoll Kajak-Fahrer ist diesen Fluss erfolgreich gepaddelt. Das bedeutet auch: Es gibt nur wenige Informationen zu den Stromschnellen, den Bedingungen und den Ausstiegsstellen. Klingt nach Spaß? Ja, aber nur, wenn man große Teile seines Lebens in einem Kajak verbracht hat. So wie Adrian Mattern.

Keine Regeln mehr!

Adrian startete seine Kajak-Karriere im zarten Alter von acht Jahren – in einem Freestyle-Boot, jenem Bootstyp, mit dem üblicherweise Kunststücke und allerhand Kapriolen auf dem Wasser vorgeführt werden. Er verliebte sich schnell in diesen Sport, qualifizierte sich irgendwann zur Freestyle-Weltmeisterschaft – und bemerkte dann, dass das Wettbewerbs-Paddeln für ihn seinen Reiz verlor. Adrian wagte die 180 Grad-Wendung und orientierte sich neu, um die Herausforderung zu finden, der er sich bis heute stellt: neue Gegenden dieser Welt mit dem Kajak zu erkunden. Seitdem hat er einige der größten, abgeschiedensten und wildesten Flüsse der Welt aufgesucht. Seinen Meinungsumschwung erklärt er folgendermaßen: »Keine Regeln mehr und keine Grenzen. Es geht allein darum, was du machen kannst und was nicht.«

Dann kam der Sarydschas. Ein Fluss, über den nur wenig bekannt ist, womit noch ein paar Regeln wegfallen. Eigentlich gibt es nur zwei. Erstens: Versaue es nicht! Zweitens: Paddle nicht unbeabsichtigt nach China!
Adrian und seine Crew wussten von Beginn an, dass es keine leichte Herausforderung sein würde, aber die Anforderungen im Kajak waren nicht die größte Sorge. Da es so gut wie keine Möglichkeiten zur Rettung oder für Support gab, musste das Team bei der Vorbereitung der Expedition alle Eventualitäten in Betracht ziehen und notwendige Vorbereitungen treffen. Adrian bringt es auf den Punkt: »Wenn du an diesen Ort reisen willst, dann musst du für alles bereit sein. Jeder Fehler zieht schwere Konsequenzen nach sich.« Die Folge: Monate der Planung und des Sammelns von Ausrüstung, die in das übersichtlich dimensionierte Kajak passen musste. Tatsächlich, so Adrian, sei das eigentliche Kajakfahren einer der einfacheren Aspekte. Worin liegen dann die Herausforderungen? In so gut wie allem anderen!

Die erste bestand darin, überhaupt ins Land und zum Fluss zu kommen. Mit einem Kajak zu reisen, stellt sich immer wieder als schwierig heraus – oft verbunden mit fantasievollen Geschichten über die Unmengen von Gepäck, die den Mitarbeitern der Airlines beim Check-in aufgetischt werden, immer in der simplen Hoffnung, dass man selbst und das Boot es ins Flugzeug schaffen. Wenn das Kajak am Zielflughafen ankommt, bedeutet das in der Regel ein Ende der meisten Probleme. Aber nicht in Kirgisistan.
Die Lösung hieß Dima. Ein Schmuggler aus der sowjetischen Ära, der heute als Fahrer und Leiter von Expeditionen dieser Art arbeitet. Er half dabei, Sprachbarrieren zu durchbrechen, Nahrung und Versorgungsgüter zu organisieren und die zwölfstündige Fahrt von Bishkek nach Engiltscheck irgendwie zu überstehen. Ohne ihn wäre diese Expedition nicht möglich gewesen. Jede Menge Unwägbarkeiten also auf dem Weg zum Wasser. Aber sobald die Crew angekommen war, wurde das Abenteuer perfekt.

Strapazen – zu Wasser und zu Lande

Kompromisslose Stromschnellen, unglaubliche Landschaften, Biwakplätze am Ende der Welt – der Sarydschas und die Tienschan-Berge warten mit allem auf, was sich Extrempaddler wünschen können. Über etwa elf Tage legt die Crew 180 Kilometer zurück und macht nur dann Halt, wenn sie müde ist (oder eine Stelle findet, um sicher aus dem Fluss zu kommen). Während der Expedition auf dem Sarydschas braucht die Crew all ihr Kajak-Können, um sich überhaupt über Wasser zu halten. Enge Felsspalten wechseln sich mit offenen Passagen ab, während ihnen der Fluss alle möglichen Wildwasser-Varianten entgegenwirft, die man sich vorstellen kann. Adrian erinnert sich: »Immer wieder kamen riesige, vertikale Felswände links und rechts auf uns zu, und der Fluss wurde enger, manchmal kaum zwei Meter breit. Dann weitete er sich wieder, und man konnte die Berge links und rechts sehen.«

Doch die wahren Probleme beginnen erst, als die kleine Truppe den Großteil der Route bereits zurückgelegt hat. Adrian und sein Team bemerken, dass der Ausstieg nicht wie geplant machbar ist. Denn dabei liegt ihnen ein Bach im Weg. Kein Problem, den zu überqueren, so hatten sie in der Planung gedacht. Doch nun erweist sich der vermeintlich harmlose Zeitgenosse als tief in die Felsen eingeschnittene, brodelnde Waschküche. Das Team sitzt in einer Sackgasse.
Die folgenden Tage kampieren die erschöpften Paddler in einer abgeschiedenen Wetterstation. Sie erkunden die Gegend und diskutieren mögliche Auswege. Aber keine der Optionen steht unter einem guten Stern. Also checken sie die nahegelegenen Berge und wandern weiter den Fluss hinab, um festzustellen, ob sie irgendwie mit dem Kajak weiterkommen können. Drei Tage lang scheint das die beste Option – aber keine gute. Die Stromschnellen halten die mit allen Wassern gewaschenen Paddler zwar für machbar, aber das ist nicht das Problem. Wenn sie weiter gepaddelt wären, wären sie in China gelandet, und hier droht eine Festnahme wegen illegalen Überschreitens der Landesgrenze.

Doch dann schafft es eines der Teammitglieder, den Bach zu überqueren und ein Seil an der anderen Seite zu befestigen. Damit erreicht auch das restliche Team langsam aber sicher das gegenüber liegende Ufer. Der Rückweg Richtung Zivilisation beginnt. Die Truppe wandert drei Tage lang, zwölf Stunden pro Tag. Immer wieder bergauf, über mehrere Pässe. Während er auf Schusters Rappen durch Kirgistans karge, abgelegene Berge streift, das Boot auf dem Rücken, fragt sich Adrian immer wieder, warum er sich das eigentlich antut. Warum er sich immer wieder solchen Situationen aussetzt. Denn er weiß ja, was ihm bevorsteht: »Schon bevor wir abgereist sind, war mir klar, dass das wohl die härteste Herausforderung wird, die ich physisch jemals angegangen bin. Mental aber vermutlich auch.«
Doch dann ist es geschafft. Die Expedition nähert sich der nächstgelegenen Straße. Und während der scheinbar endlose Marsch zu Ende geht, findet Adrian eine Antwort auf seine Frage: »Ich lebe für die Kontraste. Manchmal muss ich leiden, um die guten Momente genießen zu können. So etwas durchzustehen, das zeigt mir, wer ich bin und was ich vom Leben erwarte.«

Film zur Expedition: https://www.redbull.com/de-de/adrian-mattern-kajak-fahrt-sarydschas-kirgisistan

Der Sarydschas
Land: Kirgistan
Quelle: Semjonow-Gletscher
Quellhöhe: ca. 3500 m
Einzugsgebiet: 12.900 km2
Länge: 165 km (danach erreicht der Fluss die Grenze zur Volksrepublik China. Von da an nennt er sich Kumarik.)