Deutschland Reise

Ab ins Grüne!

Fernweh und Abenteuerlust: Heilung davon gibt es nicht nur in der Ferne. Aber wie stillt man den Tatendrang mit Unternehmungen in der Nähe? Tina und Kai Sypniewski haben sich kurzerhand zwei Boote gemietet und sind in der Südheide auf der Örtze zur Entdeckungsfahrt gestartet (Text: Tina und Kai Sypniewski).

Tina und Kai Sypniewski

Die Örtze, der Heide wilder Fluss. Nicht umsonst wird er so genannt, berichtet Frau Siemering von der Bootsvermietung »Kanu Feeling« und warnt uns vorsichtig: »Die Örtze ist genau genommen nichts für vollkommen unerfahrene Sonntagspaddler! Hier gibt es den Hauch von Abenteuer gratis mit dazu!« Vollkommen unerfahren sind wir nicht, zu dem Reigen der Fortgeschrittenen würden wir uns auch nicht zählen. Als Faltbootfahrer seit einigen Jahren rangieren wir so mittendrin. Egal, dann wird das eben unsere symbolische Bootstaufe für das nächste Level.
An der Mühle in Müden an der Örtze werden die Boote an der bestens errichteten Einsatzstelle zu Wasser gelassen, und die ersten Meter verlaufen vollkommen unaufgeregt. Zeit zum Eingewöhnen an die gemieteten Delsyk Tuktu-Boote. Kurz und wendig, das ist gut. Kaum verschwindet die Straßenbrücke mit dem Anzeiger des Pegelstandes hinter uns, da ragen schon die ersten Äste und Bäume mitten in den Fluss hinein. Die Strömung nimmt Fahrt auf, treibt uns stetig voran. Wie von Geisterhand will der Fluss uns in das Geäst drücken, und das Rühren im Wasser des naturbelassenen Slalompark Örtze will hier gelernt sein. Wildwasserfahrer sind klar im Vorteil, und Slalom-Erfahrene schaffen es sicherlich problemlos, die Boote durch die enge, freigeschnittene Gasse zu manövrieren. Alle weniger Gewieften landen zwangsläufig in den überhängenden Ästen, Zweigen oder gar am Ufer. Ohne Durchlass und Vorankommen. Uns geht es ebenso. Die Zeit zum Kennenlernen der kleinen Tuktus aus der Delsykflotte wird hier auf ein paar Paddelschläge begrenzt. Das Führen in der Strömung verläuft nach dem ersten Hindernisparcours schon wesentlich einfacher, und der Fluss drückt uns permanent voran. Der Spaß beginnt. Die Boote verlangen nach stetig korrigierender Hand am Paddel. Einfach kraftvoll mit sattem Zug den Kurs ändern und die Tuktus mit Schmackes durch die engen Durchfahrten treiben. So klappt es schon viel besser.

Zwei Bruchpiloten

Vor uns steuern zwei Kanuten ihre Gefährte sichtbar ungeschickt. Von weitem ist klar erkennbar, dass der Slalomkurs nicht zu den geschlängelten Knicken der Örtze passt. Die ziellosen Piloten hängen links im Gestrüpp fest, dann landen sie ungewollt rechts am Ufer und liegen kurze Zeit später am Baum im Wasser. Gekentert. Die Bekleidung ist zerrissen, ein Knie von einem Ast aufgeschürft. Das Blut läuft aus der Wunde, tropft ins Wasser, vermischt sich und wird davon getragen. Der kleine Schmerz bleibt. Als wir sie einholen, berichten die Bruchpiloten, dass sie einen Junggesellen-Abschied feiern. Ein Abschied mit Qualen. Wir wünschen dem Burschen alles Gute in seinem nächsten Lebensabschnitt und paddeln von dannen. Tina ruft dem baldigen Bräutigam noch lachend zu: »In der Ehe ist es wie auf dem Fluss! Man muss das Wasser fühlen!«
Die Strömung schiebt unermüdlich von hinten, zwischenzeitlich bläst uns der Wind kräftig ins Gesicht, während die Örtze sich ziellos ihrem Ziel entgegen windet. Der Wasserdruck spielt mit den Booten, reißt uns förmlich mit, während die Paddelschläge stetig den Kurs korrigieren müssen. Auch wir alten Paddler dürfen den Fluss spüren und müssen ständig korrigieren, damit man nicht ins Ufer gedrückt wird. Sobald der Blick sich träumerisch in der Landschaft verliert, landet man unfreiwillig an den weit über das Wasser ragenden Ästen. Peitschenhiebe der Natur trommeln dann unerbitterlich auf die Gesichtshaut ein und zerren an den Haaren. Nur permanente Aufmerksamkeit hilft gegen die Durchblutung fördernde Naturbehandlung. Spätestens jetzt wissen wir, was Frau Siemering von »Kanu Feeling« mit dem »Hauch von Abenteuer« meinte.

Vorfahrt für Entenfamilien

Der Weg wird freier, aber Hermannsburg verbirgt seinen Charme vor allzu neugierigen Blicken vom Wasser aus. Nur die Kirche und ein paar umliegende Häuser verraten den Ort, obwohl die Örtze mitten hindurch fließt. Erst am Ortsausgang hat man rechterhand freien Blick auf die hübsch zurechtgemachten Gärten. Ein angebrachtes Verkehrsschild erweitert mein Wissen vom Dschungel der Verkehrszeichen. Dienen diese doch eigentlich zur Beeinflussung oder Regelung des Straßenverkehrs, wird hier in dem Verkehrsschild »Vorfahrt gewähren!« noch eine Entenfamilie samt Ausrufezeichen abgebildet. Etwas weiter oberhalb befindet sich der Landolfstein. Ein Hinweisschild besagt: Vor etwa 1000 Jahren stieg nach alter Überlieferung der Mönch Landolf »upn Ollendorp« aus seinem Boot und begann die Verkündigung des Evangeliums im Örtzetal. Welch interessanter Ortsausgang.
Nachdem wir Hermannsburg hinter uns gelassen haben, schlängelt sich der Fluss durch einsame Wiesen und Wälder. Wir paddeln am Bootsanleger des Naturcampingplatzes Südheide »Am Örtzetal« vorbei und bestaunen die Häuser von Oldendorf. Gepflegter Rasen, am Ufer ist auch alles kurz geschnitten, so dass ein Blick auf die liebevoll gepflegten Grundstücke freigegeben wird. Besonders auf der rechten Seite, kurz vor der Brücke der L281, findet sich ein wunderschönes Fachwerkhaus mit Reetdach. Davor stehen Sonnenliegen, und eine Hängematte ist zwischen den Bäumen verknüpft. Das Ambiente verströmt sichtbar: Erholung pur. Direkt nebenan grunzen Schweine auf einer riesigen Wiese. Sie führen ein artgerechtes Leben. Offensichtlich glückselig. Hier scheint die Welt sich noch langsamer zu drehen.
Bewegung im Schilf fesselt unsere Aufmerksamkeit. Der Biber hat uns längst erspäht. Vollkommen unbeeindruckt zieht er seine Bahnen im Wasser, taucht ab, um dann direkt neben unseren Booten zu erscheinen und uns ein Stück des Weges zu begleiten. Bis er dann endgültig abtaucht. Nur die Bewegungen der Wasseroberfläche verraten, dass er uns immer noch begleitet.
Des einen Glück, des anderen Leid – nach entspanntem Dahingleiten kommt der Hauch des Abenteuers zurück. Zusätzlich zum ständigen Richtungswechsel versperren Äste den Fluss. Der weitere Verlauf ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Tina ruft von hinten: »Sind wir hier überhaupt richtig?« Der weitere Weg ist nicht eindeutig sichtbar. Wie ein Irrgarten. Mit eingezogenem Kopf kämpfen wir uns durch den Dschungel der Örtze, bis sich schlagartig der grüne Vorhang öffnet und der Fluss wieder gnädig mit uns ist. Zeit zum Genießen. Zeit zum Treibenlassen. Zeit für Entspannung.
Kühe stehen auf der Weide und schauen uns neugierig wiederkäuend zu. In Eversen steigen wir aus. Nicht weil der Tag sich zur Neige senkt. Nein, vielmehr zeigt uns der Mindestpegel hämisch seine rote Markierung. Schade, hier ist Schluss für heute. Durchfahrt verboten.

Ein Vollbad – unfreiwillig

Der Wetterdienst hat Regen versprochen. Seit wann freue ich mich im Urlaub auf Regen? Hier scheint alles anders zu sein. Der Regen trommelt aufs Dach. In meinem Traum füllt sich der Fluss. Die Ernüchterung erfolgt am Morgen: Der rote Anzeiger ragt noch immer etwa einen Zentimeter aus dem Wasser. So fällt die Strecke Eversen-Wolthausen sprichwörtlich ins Wasser. Vorerst. Denn der Wettergott hat ein Einsehen mit uns und öffnet seine Schleusen. Fluch und Segen liegen eng beieinander, wir können bei dem Wetter unsere Freude nicht verbergen. Das schafft Wasserhöhe! Tatsächlich ist später der rote Balken am Pegelmesser verschwunden und nur noch Grün sichtbar. Wie an einer Ampel, die den Verkehr freigibt, starten wir durch. In Nullkommanichts sind die Boote runter vom Auto und in einer Geschwindigkeit zu Wasser gelassen, als würde jeden Moment die Ampel auf Rot springen können. Abfahrt.
Sofort ist erkennbar, dass dieser Abschnitt stark vom Wasserstand abhängt. Sichtbar wenig bepaddelt. Dass dies nur die Vorboten sind, ahnen wir noch nicht. Bis kurze Zeit später nichts mehr geht. Bäume liegen quer im Wasser und geben nicht den geringsten Weg frei. Die Boote über die Bäume zerren oder anlanden und umtragen. Wir wählen die letzte Variante und lachen trotzdem vor Glück.
Bei Wolthausen ist das Pech auf der ganzen Linie mit uns. Kaum haben wir vom Ableger abgestoßen, da steht Tina mitten im Wasser vor mir. Das Boot an der Hand. Auch Einparken will auf dem Wasser gelernt sein. Stattdessen hielt sie sich an den überragenden Zweigen fest, und die Strömung drückte das Boot weiter, bis der Bogen überspannt war. Endergebnis: nass von oben bis unten. Ich entleere das Boot, Tina wechselt stumm die Bekleidung. Ist das die Taufe für das Level der Fortgeschritten? Dafür läuft es ab jetzt richtig rund. Der Fluss mäandert in herrlichen Bögen hin und her. Plötzlich ist vor uns riesiges Gezeter zu vernehmen. Zwei Kanus hängen in den Bäumen quer. Sauber eingeparkt. Die Strömung drückt unnachgiebig, und nur mit Mühe bekommen die Kanuten beide Boote wieder in Fließrichtung. Der Weg ist frei. Zum Glück. Ab der Brücke bei Stedden zieht die Örtze noch einmal alle Register. Macht hinter der Brücke einen auf Wildwasser, lässt mit unzähligen Ästen immer öfter nur eine kleine Fahrtrinne frei. Strömung spielt ständig mit den Booten und versucht, diese aus dem angepeilten Kurs zu drücken, doch kräftige Paddelschläge greifen korrigierend ein. Jetzt können wir es.
Wir haben gelernt, die Örtze zu fühlen, auf ihrer Strömung zu reiten, im Zweifel lieber schnell den Kopf einzuziehen, bevor ein Ast schmerzhaft am Ohrläppchen zupfen kann. Als hätte sie nichts mehr zu bieten, spült sie uns in die Aller hinein. Noch ein letzter kräftiger Schub bis nach Winsen, und wir haben unsere eigene Taufe bestanden. Ein Hauch von Abenteuer war auf alle Fälle dabei!

Reiseinfo: Örtze

Anreise: Der Fluss liegt zwischen Hamburg und Hannover. Daher bietet sich die Anreise aus diesen Richtungen über die A7 an. Im Süden verläuft die A2 und ist für die östlichen Besucher eine Option. Lediglich aus dem nordöstlichen Raum wird man eine längere Anfahrt über Landstraßen einplanen müssen.

Bootsvermietung: Je nach Bedarf bietet Frau Siemering von »Kanu Feeling« die Vermietung von Kajaks und Canadiern samt Ausrüstung an. Von der ausgearbeiteten Ein- und Mehrtagestour bis hin zu den unterschiedlichsten Veranstaltungen per Kanu wird das Erlebnis rund ums Wasser, Boot und Paddel auch gerne individuell ausgearbeitet. Ein Vorabkontakt per Mail oder Handy ist zwingend erforderlich: Tel. +49 (0)162 9 60 70 47, E-Mail info@kanu-feeling.de. Weitere Infos: www.kanu-feeling.de

Unterkunft: Direkt am Fluss Örtze und am Oldendorfer See befindet sich der Naturcampingplatz Südheide »Am Örtzetal«. Die einfach gehaltene Anlage weist eine ausreichende Fläche für Camper und Wohnmobile auf. Selbst in der Hauptsaison sollte ausreichend Platz zum Nachbarn möglich sein. Anschrift: Dicksbarg 46, 29320 Südheide, OT Oldendorf. Weitere Infos: www.naturcampingplatz-südheide.de

Befahrungsregeln: Paddelsaison mit Canadier oder Kajak zwischen dem 16. Mai und dem 14. Oktober in der Zeit von 9 bis 18 Uhr. Vor Befahrung der Örtze muss man sich zwingend über die Befahrungsregelungen informieren: www.naturpark-suedheide.de/aktiv-im-naturpark/pegelstaende-fluss-erlebnis, https://www.landkreis-celle.de/Kurzmenü/index.php?La=1&object=tx,3314.15976.1