Reise Welt

Mit voller Wucht

Monströse Wellen, reichlich Gefälle, massive Wasserwucht. Patagonien mit all seiner Schönheit und Wildnis – eine Expedition zum Río Baker in Chile.

David Sodomka

Ein Roadtrip durch Chile, entlang der Westküste Südamerikas
bis in den Süden Patagoniens – dieser Plan lässt wohl das
Herz eines jeden WW5-Paddlers Herzen höher schlagen.
Ganz oben auf der Wunschliste steht dabei der bekannte und
für sein Wuchtwasser berühmte Río Futaleufú, das südlichste
Ziel auf der Karte. Die Reise zum Futaleufú ist schon ein
Abenteuer an sich. So ist es von Pucon ein guter Tagestrip,
bis man schließlich mit der Fähre Richtung Futa reist und
endlich die Strecke »Bridge to Casa« paddeln kann.
Wie gesagt, der Futa stellt für viele das Highlight eines jeden
Chile-Trips dar. Doch lohnt es sich, das langgezogene Land
noch weiter in Richtung Süden zu bereisen, denn dort wartet
der Río Baker als absolutes Bigwater-Highlight. Er gehört zu
den wasserreichsten Flüssen in Chile, und mit seinen
gigantischen Stromschnellen und Schluchten stellt er eine
enorme sportliche Herausforderung dar, der man sich nur
nach ausreichender Akklimatisierung am Futaleufú stellen
sollte.

Farbspiel am Zusammenfluss

Also gut, erst ein »Trainingslager« auf dem Río Futaleufú.
Dann aber auf den weiten Weg über Schotterstraßen, Pässe
und Fjorde, weiter nach Süden. Nach knapp zwei Tagen
Fahrt, Shopping und einem platten Reifen kommen wir gegen
Abend am Einstieg an, 40 Kilometer nördlich der Stadt
Cochrane. Hier werden wir vom klassischen, nass-kalten
Wetter Patagoniens empfangen. Wir versuchen noch kurz
eine Cabana (eine Art Bungalow) aufzutreiben und geben uns
dann doch mit Tarp und Isomatte am Flussufer unterhalb der
ersten beiden Schluchten zufrieden.
Am nächsten Morgen werden wir von der Sonne geweckt und
scouten die vier großen Rapids des ersten Canyons von der
Straße aus. Obwohl wir uns einige Meter über dem
Flussniveau befinden, lässt sich die Dimension des Baker
schon erahnen. Die Stellen sehen selbst aus sicherer
Entfernung gewaltig aus – und das, obwohl das Gefälle
optisch nahezu verschwindet!
Der Einstieg, der sogenannte Salto Neff, markiert die einzige
Creekline, die am Baker zu finden ist. So wird der Wasserfall
mit gigantischen Rücklauf, der sich nahezu über die gesamte
Flussbreite erstreckt, im linken Channel über eine knapp vier
Meter hohe Doppelstufe angefahren, bevor man ins
Hauptwasser einbiegt und zum ersten Mal die gesamte Power
des Baker zu spüren bekommt.
Schon der Zusammenfluss selbst stellt ein wunderschönes
Naturschauspiel dar: Das türkisfarbene Wasser des Baker
vermischt sich an dieser Stelle mit dem braunen
Gletscherwasser des von rechts kommenden Rio Neff und
zaubert ein bizarres Farbspiel auf die Wasseroberfläche.

Nach einem kurzen Stopp im Kehrwasser geht es sofort los, und so
werden Stelle eins und zwei direkt hintereinander gepaddelt.
Das Gefühl ist unglaublich! Überall pulsiert es zwischen den
Schluchtwänden, und es ist schon eine Herausforderung für
sich, zu Beginn der Stromschnellen überhaupt auf die richtige
Linie zu kommen. Immer wieder entstehen aus dem Nichts
Verschneidungen und Whirlpools so groß wie Minivans, die es
erschweren die Ideallinie zu halten. Nichtsdestotrotz schafft
es das gesamte Team ohne Katastrophe durch die beiden
Stellen und findet sich oberhalb der schwierigsten Stelle des
Bakers (Nummer 3) wieder im Kehrwasser ein.

Kopfunter im Kehrwasser

Nummer 3 ist mit seinen gewaltigen Schrägwalzen, die
immer wieder von links nach rechts peitschen und den
Paddler nahezu unaufhaltsam in Richtung des stark
pulsierenden und rotierenden Kehrwassers »Eddy of Doom«
befördern, die vermutlich eindrucksvollste Stromschnelle des
gesamten Flusses. Wir paddeln mitte-rechts auf die
Abrisskante zu, um den monströsen Rücklauf auf der linken
Seite zu umgehen und um anschließend mit genügend
Schwung durch die Schrägwalzen zurück nach links ins
sichere Kehrwasser zu schneiden.

Als ich über die Rampe komme und in die Stelle einfahre, traue ich meinen Augen
kaum. Die Stelle ist nicht nur um einiges größer und steiler
als die vorherigen, zu allem Unglück befindet sich auch
keiner meiner Kollegen auf der Idealline: einer im Sidesurf
der extrem großen, brechenden Welle, auf die ich direkt
zusteuere und die es zu durchbrechen gilt. Ein anderer
kopfunter in Richtung der Prallwand auf der rechten Seite,
hinter der sich das »Eddy of Doom« befindet. Dieses
Kehrwasser pulsiert mit einem Höhenunterschied von bis zu
zwei Metern und hat das Potenzial, Paddler samt Boot zu
verschlingen oder gar den Fahrer aus seinem Gefährt zu
saugen. Ich prügle das Wasser mit den stärksten
Paddelschlägen meines Lebens und versuche, nach links auf
Kurs zu kommen. Jedoch werde ich von der massiven
Schaumkrone mit solcher Wucht überfahren, dass ich einen
kompletten Überschlag mache und nach links in das sichere
Kehrwasser paddle. Von dort kann ich beobachten, wie es
den Paddlern nach mir ergeht, die alle ihren eigenen Kampf
mit Nummer 3 führen. Alle, bis auf David, schrammen sie
knapp am »Eddy of Doom« vorbei. Ich sehe, wie er kopfunter
in das Kehrwasser gesogen wird, und mache meinen
Wurfsack vom Boot aus bereit. Er kämpft intensive Sekunden
und versucht wieder aufzurollen. Vergebens? Nein, nach
unzähligen Runden wird er schließlich ausgespuckt und kann
sehr zum Erstaunen der Mitpaddler aufrollen – nachdem
niemand mehr damit gerechnet hat, dass er sich überhaupt
noch im Boot befindet.

Weiter zum Pazifik!

Nach diesem Drama nehmen die Schwierigkeiten der darauf
folgenden Rapids etwas ab. Dennoch bieten die weiteren
Canyons Bigwater der Extraklasse, und die Stellen
unterscheiden sich in ihrer Größe und Wucht kaum von ihren
Vorgängern.


Als wir am Abend nach unserer ersten Befahrung der
unglaublich großen Baker Canyons von David hören, dass der
gesamte Fluss vom Quellsee bis ins Meer gepaddelt werden
kann, steigt unsere Begeisterung enorm. Eine Mehrtagestour
soll es sein! Doch wie viele Tage? Zwei, drei oder sogar vier?
Keiner weiß es, und um mehr Infos einzuholen, fehlen uns
Zeit, Internet und Telefonempfang. Also recherchieren wir
mit unseren Offline-Karten. Das Ergebnis: rund 170
Flusskilometer, drei Tage und atemberaubende Landschaft,
Berge, Gletscher und Wasserfälle – einmal sehen wir später
wir eine Kombination aus mehr als zwölf Wasserfällen über
eine Granitwand hinab stürzen. Mir kribbelt es in den
Fingern, als es in die nähere Planung und Umsetzung der
Mehrtagestour geht. Wie viel Equipment und Essen brauchen
wir für sechs Personen und etwa 60 Kilometer am Tag? Wir
entscheiden uns, die drei großen Canyons des ersten Tages
mit leeren Booten zu paddeln und am eigentlichen Ausstieg
die Boote zu bepacken. Eine gute Entscheidung, denn das
Wildwasser zeigt sich immer noch erschreckend wuchtig,
nicht anders als bei der ersten Befahrung.


Am Ausstieg der ersten Canyons läuft mir das Wasser im
Mund zusammen, als ich daran denke, am Lagerfeuer des
ersten Nachtlagers den »Mords-Fisch« zu verschlingen, den
Paul am Vortag gefangen hatte. Unser Hunger ist so groß,
dass wir, nachdem wir unsere Boote bepackt haben, unser
Glück beim Fischen aus dem Kajak versuchen. Leider
vergebens, jedoch finden wir eine traumhaft schöne Insel,
auf der wir im Sonnenuntergang unser erstes Nachtlager
aufschlagen. Glücklicherweise ist Pauls Fisch so groß, dass
wir trotzdem alle satt werden, und nach ein paar Bier und
Piscos (eine Art Nationalschnaps Chiles) schlafen wir wie
Babys.

Langsam wird’s anstrengend

Der zweite Paddeltag beginnt ruhig. So richtig Fahrt nehmen
wir erst wieder auf, als ein großer Gletscherfluss von rechts
mündet. Jetzt heißt es Kilometer fressen, bis wir im
Abendlicht eine Umtragestelle erreichen. Eine unverkennbare
Klamm-Passage, die in einem Monster-Champions-Killer
endet. Wir umtragen sie links und sehen, wie ein Riesenfisch
versucht, die Gefällestufe hinaufzuspringen. Also alle Hände
wieder an die Angeln! Leider abermals ohne Erfolg. Lediglich
David hat einen Biss an einem kleinen Zufluss, jedoch reißt
sich der Fisch einen knappen Meter vor seiner Hand wieder
los und sorgt somit nur für schlechte Träume.
Das zweite Nachtlager schlagen wir erst kurz vor der
Dunkelheit auf einer Insel vor einer großen Treibholz-Wurzel
auf. Neben dem misslungenen Fischfang lässt uns die
Befürchtung nicht los, dass wir am Folgetag zwar nur noch
ein Drittel der Gesamtstrecke vor uns haben, dies aber durch
die höchstwahrscheinlich geringere Fließgeschwindigkeit in
Fjordnähe der »sportlichste« Paddeltag werden könnte.


Deshalb wird am nächsten Tag früher gestartet, und die
Mittagspause wird kurzerhand gestrichen. Nebeneinander als
Floß dahintreibend, wird nur etwas Porridge aus der Tüte
gepresst. Es will auch niemand mehr aussteigen, da das
Wetter uns mit leichtem Regen und Wind entgegenkommt
und nur noch eine Sache gilt: paddeln, paddeln, paddeln.
Mit lauter Motivationsmusik geht es um die letzten Kurven.
Im Flussdelta angekommen, entscheiden wir uns für den
Flussarm ganz links, der uns am Ende in einem nur ein Kubik
starken Kanal in den Fjord hinausführt. Seltsam langsam sind
die letzten Meter bis in den Hafen von Caleta Tortel, wenn
man drei Tage lang 1000 Kubik unter dem Hintern hatte.
Reichlich erschöpft klatschen wir uns zur erfolgreichen
Befahrung ab, voller Erleichterung, am Ziel angekommen zu
sein. Jetzt nur noch die steilen Stufen über das nassrutschige Treppenlabyrinth hinauf zu einem kalten Bier,
einem saftigen Burger und einer warmen Cabana (Text: Marinus Bauer).

Der Rio Baker

Der Río Baker ist der Fluss mit der höchsten Wasserführung
Chiles. Im vergangenen Jahrzehnt war er von einem
umfangreichen Dammbau-Projekt bedroht. Nach Protesten
ortsansässiger und internationaler UmweltschutzOrganisationen zogen die Behörden aber die Genehmigungen
für diese Bauvorhaben im Juni 2014 zurück. Ein paar Daten:
Lage: Region Aysén, Patagonien, Chile
Ursprung: Lago Bertrand
Quellhöhe: 200 m
Mündung: Golf von Penas, Pazifik
Länge: ca. 170 km