Reise Welt

Erstklassiges Leiden, erstklassiges Genießen

Der Keele River windet sich durch ein menschenleeres Naturparadies in den kanadischen Northwest Territories. Wer wilde Schönheit sucht, ist hier richtig. Wer die Herausforderung sucht, auch.

Geri Sigl & Mike Peak

Der sechste Tag. Es regnet seit 48 Stunden, die Temperatur schlägt Wurzeln um den Gefrierpunkt. Der Fluss abflussbraun, der Himmel fast schwarz. Die Arbeit mit dem Paddel hat die Haut aufspringen lassen, Arme und Schultern fühlen sich nach einem weiteren 35-Kilometer-Tag wieder mal wie Pudding an. Der Schlafsack ist so klamm, dass man die Nacht lieber unter der Plane am Lagerfeuer verbringt und missmutig an die nächste, 400 Kilometer entfernte heiße Dusche denkt. Wenn also sämtliche Frustfaktoren gegen einen aufgefahren sind – dann stellt man sich schon mal die Sinnfrage, die so kurz wie berühmt ist: Warum nur, warum?

Die Frage aller Fragen – beantwortet

Darauf gibt es, wie eigentlich immer bei solchen Abenteuern, zwei Antworten.
Die kurze: Weil dies nicht irgendein Paddel-Revier ist, sondern der Keele River in den kanadischen Northwest Territories. So ähnlich begründen ja auch die Mount Everest-Bezwinger ihre Lust auf den Berg: Weil er da ist.
Die lange Antwort nimmt den Rest dieser Geschichte ein. Sie beginnt damit, dass es an diesem denkwürdigen sechsten Tag in unserer Gruppe nicht zu einem ernsthaften Stimmungsabschwung kommt. Das liegt zunächst daran, dass selbst dieser strapaziöseste Tag unserer Tour nicht mit der aus dem Alltagstrott bekannten Frage zu Ende geht, was man eigentlich während der letzten 48 Stunden gemacht hat. Stattdessen hat sich jeder einzelne Tag auf dem Fluss ins Gehirn gebrannt. Wir sind durch waschbrettähnliche Abschnitte mit meterhohen, stehenden Wellen geritten und haben begeistert »Yiiieehhaaa!« gebrüllt. Wir haben enge Canyons gemeistert, die unsere Kanus über unterschiedlich schnell fließende Untiefen schubsten, und eine tückische Stromschnelle, die vom Ufer aus gescoutet werden musste, weil sie hinter einer Biegung verschwand und deshalb nicht vom Boot aus einsehbar war. Selbst in der Nacht unter der Plane geht uns der Gesprächsstoff nicht aus. Wie besagte Stromschnelle nach sechs Tagen auf dem Fluss, an denen wir uns schon unbesiegbar zu fühlen begannen, mit ihren Unterwasserstrudeln die Verhältnisse wieder zurechtrückte, indem sie unsere Kanus so heftig bremste, dass es uns von den Bänken hob – das vergessen wir nicht.

Durch wahre Wildnis

Aber natürlich gibt es nicht nur Schinderei auf dieser Expedition. Vor allem gibt es wilde Schönheit, selige Momente tiefen Durchatmens und das unvergleichliche Gefühl, im Umkreis von 400 Kilometern die einzigen Menschen zu sein. Ungezähmt kurvt der Keele River von seiner Quelle an der Grenze zum Yukon-Territory bis zur Mündung in den mächtigen Mackenzie River 400 Kilometer durch eine sprachlos machende, sich selbst überlassene Wildnis. Keine Menschenseele hier, aber Elche, Karibus, Fischadler, Schwarz- und Grizzlybären, schneebedeckte Bergriesen, Urwälder aus Schwarzkiefern und Espen und herrliche Lagerstellen am Tagesende. Das goldene Licht der Mitternachtssonne. Und, nicht zu vergessen, Angeln der Extraklasse, vor allem muskulöse Forellen namens Dolly Varden.
Der Keele, den die Dene First Nations »Begadée« (»Gewundener Fluss«) nennen, fließt mit einer Geschwindigkeit von sechs bis acht Stundenkilometern, nach Regenfällen (siehe oben) erheblich schneller. Die Stromschnellen und Strudel rechnen Experten den Kategorien eins und zwei zu. Sie sind auch von Wildwasser-Novizen zu bewältigen. Zehn bis zwölf Tage müssen für diese Tour veranschlagt werden, bei Tagesetappen zwischen 30 und 60 Kilometern Länge. Drei Tage vor der Mündung in den Mackenzie verlässt der Keele die Berge, wird breiter und langsamer. Hier und da zerfasert er in flache Kanäle, von denen manche in toten Armen enden. Ein Paradies für Elche und eine letzte Prüfung für die Teams, denen die Strömung fortan nicht mehr weiter hilft.

Im Wasserflugzeug zum Einstieg

Das Keele-Abenteuer beginnt in Norman Wells. Die 800-Seelen-Siedlung am Mackenzie River liegt knapp unter dem Polarkreis und wird täglich angeflogen. Straßen hierher gibt es nicht. Raison d’être dieser nüchternen Siedlung sind die Öl- und Erdgasvorkommen der Region. Schon gleich vor der Haustür wird nach Öl gebohrt, im Mackenzie River, wo künstliche Inseln die meisten der Einwohner daran erinnern, weshalb sie hergekommen sind. Eine Handvoll Restaurants und ein kleiner Supermarkt sowie ein, zwei Espressomaschinen halten sie bei Laune. Es gibt auch ein kleines Museum. Besucher übernachten in einem der drei oder vier Hotels.
Tags darauf lädt man die Kanus in eine gecharterte Twin Otter und hebt ab Richtung Einstieg. Nach anderthalbstündigem Flug zwischen zerklüfteten Zweieinhalbtausendern drückt der gegen die Strömung landende Pilot die Schwimmer gefühlvoll in den bei Sonnenschein smaragdgrünen Keele. Am ersten Tag paddelt man nur zum ersten Lager wenige Kilometer flussabwärts. Zum Tagesende veranstalten die Guides einen Paddel-Intensivkurs, bei dem die Teilnehmer das kleine Einmaleins des Kanuwanderns lernen. Wie nähert man sich bis zu anderthalb Meter hohen Wellen? Wie navigiert man fadenscheinige Wirbel? Wie überquert man einen Fluss mit einer Fließgeschwindigkeit von zehn Kilometern, ohne zu weit abgetrieben zu werden? Wie bleibt man bei hohem Wellengang trocken?

Erstklassiges Genießen, Schönheit pur

Aber zurück zu der Nacht unter der Plane. Am nächsten Morgen halten wir uns nicht lange mit Griesbrei und Kaffee auf und sind eine halbe Stunde später wieder auf dem Fluss. Ein gutes Gefühl, wieder im Kanu zu sitzen! Es stimmt, man wird geradezu süchtig nach der Arbeit am Paddel. Die Sonne bricht durch, die Erinnerung an die Strapazen der letzten 48 Stunden ist schnell verflogen.
Der Keele ist unser Zuhause geworden, der Alltag mit Dauerberieselung durch Fernsehen und soziale Medien verschwimmt endgültig im zarten Nachmittagslicht. An der Mündung des Twitya River gehen wir an Land. Wo sein blaugrünes Wasser sich mit dem noch immer braunen Keele vereinigt, stehen Forellen und Äschen. Wir machen es uns am Ufer bequem und werfen die Leinen aus. Unsere Canadier, diese urkanadischen und ästhetischsten aller Wasserfahrzeuge, liegen auf einer Sandbank und sehen einfach nur schön aus. Erstaunlich, wie schnell uns der Alltag auf dem Fluss in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir paddeln, schauen und genießen, schießen jubelnd über weißbemützte Wellenberge und landen krachend in gischtenden Wellentälern. Am Ende des Tages ziehen wir die Boote an Land, machen Feuer und gönnen uns zuallererst einen Kaffee. Und steigen bereits um neun völlig erschossen in den Schlafsack. Warum also tut man sich das an? Siehe oben. Und noch ein Bonus: Man kommt mal nicht mit leerem Kopf aus den Strandferien zurück, sondern kann zu Hause tolle Geschichten erzählen.

Der Keele River

Quellgebiet: Selwyn Mountains
Quellhöhe: ca. 1850 Meter
Mündung: in den Mackenzie River
Mündungshöhe: 121 Meter
Sohlgefälle: ca. 4,2 Promille
Länge: ca. 410 km
Veranstalter: www.sktouristik.de