Deutschland Reise

Der Klang der Stille

Kanutrekking auf dem Bolmen, dem zehntgrößten See Schwedens: lichte Laubwälder, beschauliche Buchten, zahllose Inseln, herrliche Sonnenaufgänge, würzige Waldluft. Und eine Stille, die man hören kann. (Text: Samira Kassel)

Samira Kassel

Volle Lotte tritt mein Vater auf die Bremse. Im Licht der Autoscheinwerfer springen drei Rehe über den geschotterten Waldweg. Aus Erfahrung hat mein Vater bereits mit Wildwechsel gerechnet, erst recht hier, mitten im Wald – 24 Stunden nachdem wir in der Nähe von Gießen gen Norden gestartet sind, erreichen wir heute Abend den Bolmen in Südschweden. Bisher sind wir auf unseren Nordlandtouren immer an diesem See vorbei gefahren. Wir waren der Meinung, dass die Seen Südschwedens landschaftlich uninteressant wären. Nach unserem ersten Eindruck von heute müssen wir unsere Meinung revidieren. Die Landschaft hier hat eindeutig den nordischen Charakter, den wir so sehr lieben. Die Ufer des Bolmen sind fast unverbaut. Das Seewasser dient der Trinkwasserversorgung mehrerer südschwedischer Orte. Außerdem hat der Bolmen einen natürlichen Ablauf, den Fluss Bolmån. Aufgrund der guten Wasserqualität und der geringen Uferbebauung soll das Gewässer sehr fischreich sein und 24 verschiedene Fischarten beheimaten.

Der Duft des Waldes

Mittlerweile befinden wir uns auf der Höhe des südlichsten Ausläufers, des Kafjorden. Der holprige Waldweg führt um einige Kurven herum zum Seeufer. Nach ungefähr 300 Metern lichtet sich der dichte Laubwald, und wir stehen auf einer hellen, grasbewachsenen Lichtung direkt am Ufer. Als ich aus dem Auto steige, schlägt mir ein würziger Duft nach Harz, frischem Grün und feuchtem Moos entgegen. Die Luft ist noch aufgeheizt von den warmen Sonnenstrahlen des Tages. Nach dem langen Tag im heißen Auto kleben mir mein T-Shirt und meine Shorts am Leib. Umso verlockender glitzert der See im schwindenden Licht des Tages. Ich zögere nicht lange und streife mir die Klamotten vom Leib. Gemeinsam mit unseren zwei Hunden, Luzy und Fly, laufe ich in das kühle Wasser hinein und lasse mich fallen. Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen, und all die Anspannung der letzten Tage fällt von mir ab.
Zehn Minuten später krabble ich herrlich erfrischt wieder ans Ufer, die Hunde im Schlepptau. Wir parken den Wohnwagen am hinteren Rand der Lichtung und bringen ihn in die Waage. Nach einem schnellen Abendessen fallen wir todmüde ins Bett. In unseren Köpfen hat sich bereits das Vorhaben festgesetzt, gleich am nächsten Tag mit den Kajaks auf eine einwöchige Zeltgepäcktour zu starten.

Die Elchvögel

Gesagt, getan. Als ich um kurz nach sechs am nächsten Morgen aufwache, sendet die Sonne bereits ihre warmen Strahlen durch das Wohnwagenfenster auf meine Nasenspitze. Voller Tatendrang schlage ich den Schlafsack zurück und stehe auf. Mein Vater ist bereits dabei, unsere klein verpackten Schlauchkajaks Riverstar und Explorer 2 der österreichischem Luftbootfirma Grabner aus dem Kofferraum des Autos zu holen. Die Nacht war verhältnismäßig kühl, aber die Sonne verspricht uns einen sommerlichen Tag.
Drei Stunden später liegen die aufgepumpten Grabnerkajaks halb im Wasser. Am Ufer stapeln sich wasserdichte Packsäcke und Tonnen, darin Zeltausrüstung, Kleidung, Regen-Tarp und Proviant für die kommenden sieben Tage. Jetzt müssen wir das ganze Gerödel nur noch irgendwie in den Kajaks verstauen. Es ist nicht so, dass wir uns das erste Mal dieser Aufgabe stellen. Wir machen fast jedes Jahr eine mehrtägige Kanugepäcktour. Über den Winter haben wir jedoch immer wieder genug Zeit, um unsere bewährte Pack-Logistik zu vergessen. Aber kaum haben wir einmal mit dem Beladen der Kajaks angefangen, läuft es wie von selbst. Innerhalb einer Viertelstunde sind wir startklar. Luzy und Fly sitzen bereits zehn Minuten vor der Abfahrt in den Booten, damit wir sie ja nicht vergessen.

Um halb zwölf starten wir bei 26 Grad und Sonnenschein zu unserer ersten Kanutour auf dem Bolmen. Wir folgen dem Uferverlauf nach Osten. Hier und dort entdecken wir zwischen den Bäumen am Ufer ein hübsches Häuschen im typischen Schwedenrot. Bereits nach kurzer Zeit passieren wir den Auslauf des Flusses Bolmån, der den Bolmen in südöstlicher Richtung verlässt. Weiter in Richtung Osten paddeln wir in den Lunnaviken, einen schmalen Seitenarm des Bolmen hinein. Wir lassen uns viel Zeit und klappern jede einzelne Bucht ab. Buchten und Inseln hat der Bolmen viele zu bieten. Angeblich soll es in diesem See über 360 Inseln geben. Wir haben sie nicht gezählt, können aber bestätigen, dass es viele sind.

Gegen halb sechs machen wir uns auf die Suche nach einem Lagerplatz für die Nacht. Es dauert nicht lange, und wir entdecken auf der Westseite einer ufernahen Insel einen süßen, weißen Sandstrand. Direkt dahinter befindet sich eine kleine Lichtung im saftig grünen Mischwald. Sie ist gerade groß genug, um unser rotes Hilleberg-Zelt darauf aufzubauen. Feuerholz für ein wärmendes Lagerfeuer findet man in dem dichten Unterholz genug. Wir bauen unser Zelt auf, sammeln Holz und entzünden ein kleines, flackerndes Lagerfeuer. Während ich uns auf dem Campingkocher ein warmes Abendessen zubereite, kriechen feine, weiße Nebelschwaden vom Ufer her über den See. Langsam verschwindet die Sonne hinter den Bäumen. Die leichten Schleierwolken am abendlichen Himmel leuchten in einem zarten Rosa, als wir müde und voller Vorfreude auf den nächsten Tag ins Zelt krabbeln.

Ein Himmel in Rosarot

Die Erde bebt. Ich rolle im Bett hin und her und werde durchgeschüttelt. Das Holz meines Bettgestells quietscht. Hoffentlich falle ich nicht aus meinem heißgeliebten Hochbett. »Hey, komm’, das ist ein fantastischer Morgen! Wir müssen aufs Wasser«, dringt die Stimme meines Vaters durch meinen Halbschlaf. Als ich die Augen aufschlage, stelle ich verwirrt fest, dass ich mich gar nicht zuhause in meinem Hochbett befinde. Stattdessen liege ich am äußersten Rand der Luftmatratze im Zelt, und mein Vater rüttelt mich an den Schultern. »Da draußen gibt es gleich einen herrlichen Sonnenaufgang mit toll beleuchteten Nebelschwaden. Wir lassen hier alles stehen und liegen und gehen mit den Kajaks aufs Wasser. Das wird richtig gute Fotos geben.« Verschlafen schaue ich auf die Uhrzeitangabe meines Handy-Displays: 4.30 Uhr. Oh Mann, was geht hier im Norden die Sonne früh auf. Ich bin absolut kein Morgenmuffel, aber um diese Uhrzeit fällt mir das Aufstehen doch nicht ganz leicht. Als ich jedoch durch den geöffneten Zelteingang einen Blick auf den See werfe, gibt es kein Zögern mehr. Dicke, weiße Nebelschwaden steigen von der Wasseroberfläche empor und wabern mit einer Dicke von zwei bis drei Metern über den See. Der Himmel im Osten ist bereits in ein leuchtendes Rosarot getaucht. Ich krabble aus dem Zelt. Kühle, feuchte Morgenluft schlägt mir entgegen. Schnell ziehe ich mir einen Pulli über das dünne T-Shirt. Dann folge ich meinem Vater zu den Kajaks. Die Hunde haben bereits ihre Plätze in den vorderen Sitzluken eingenommen.

Mein Vater hat seine Kamera griffbereit um den Hals hängen. Jetzt müssen wir uns ranhalten. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne lugen bereits durch die Baumwipfel. Aus der Ferne ertönt der Ruf eines Kuckucks. Ansonsten ist alles still, keine Motorengeräusche, keine Flugzeuge, kein Stimmengemurmel. Lediglich die Laute der Natur, das leise Plätschern des Wassers, das Summen der Insekten und das Zwitschern der ersten Vögel.
Der glühend rote Feuerball steigt über dem Horizont empor. Unvermittelt spüre ich die Wärme der sanften Morgenstrahlen. Ringsherum steigen die Nebelschwaden empor. Eine tolle Stimmung zum Filmen und Fotografieren. Während ich vor kleinen Inseln und schmalen Schilfgürteln posiere, knipst sich mein Vater die Finger wund. Die dicken, weißen Nebelschleier flüchten sich vor den warmen Sonnenstrahlen über den See nach Westen, doch vergeblich. Innerhalb einer Viertelstunde ist der Nebel weg, aufgefressen von der Morgensonne.

Die Könige der Lüfte – und die Geister der Tiefe

Später an diesem Tag paddeln wir in eine weitläufige Bucht mit zahlreichen kleinen Inseln hinein. Wir sind auf der Suche nach einem Pausenplatz. Am liebsten biwakieren und pausieren wir auf Inseln. Dort können wir unsere Hunde bedenkenlos herumstrolchen lassen. Wir steuern eine winzig kleine Insel an, auf der gerade mal drei mittelhohe Birken, eine dunkle Kiefer und ein großer Felsblock Platz finden. Als wir ungefähr zehn Meter von der Insel entfernt sind, steigt plötzlich eine ganze Schar aufgeregter Seeschwalben von der Insel in die Höhe. In waghalsigen Bögen kreisen sie über uns. Hier und dort lässt sich einer der geübten Flugkünstler abrupt fallen, um sich dann kurz vor der Wasseroberfläche wieder zu fangen. Mit gefährlich anmutenden Scheinangriffen versuchen sie, uns auf Abstand zu halten. Bei genauerem Hinsehen entdecken wir auf den Felsen und kleinen Steinen der Insel an die zehn Schwalbennester. Dick aufgeplustert wärmen die Weibchen ihre Brut. Kein Wunder, dass die flinken Wasservögel so ein Theater machen. Sie haben Angst, dass wir ihre Eier klauen könnten. Diese Sorge können wir ihnen nehmen. Wir lassen sie in Ruhe und paddeln weiter.

»Wild« campen

Campieren ist an den Ufern und auf den Inseln des Bolmens überall möglich, wo es kleine Buchten zum Anlanden gibt. In Schweden herrscht das Jedermanns-Recht. Das bedeutet, dass jeder in »freier Wildbahn« sein Zelt aufschlagen darf, außer auf Privatgrund. Zwingende Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das Gelände so verlassen wird, wie es vorgefunden wurde: müllfrei, ohne herumliegende Hinterlassenschaften und ohne Pflanzen und Tiere zu schädigen.

Reiseinfo Bolmen

Der Bolmen ist der größte See in Seeland in Südschweden und der zehntgrößte See Schwedens. Er liegt circa 80 Kilometer südlich der Stadt Jönköpping, erstreckt sich über eine Fläche von 173,19 Quadratkilometern und ist sehr fischreich. Das Wasser des Bolmen hat Trinkwasserqualität, was gerade bei Mehrtagestouren von Vorteil ist.
Campingplätze: Ein gutes Basislager für Tages- und Mehrtagestouren mit dem Kanu auf dem Bolmen ist der Campingplatz »Löckna Camping & Stugby« (loknacamping.com), der zur Gemeinde Lidhult gehört und am westlichen Ufer des Bolmens auf einer Landzunge liegt. Dort kann man sowohl mit eigener Ausrüstung campieren wie auch Hütten anmieten. Alternativ gibt es am südöstlichen Ufer des Sees noch den »Bolmenscamping« (bolmen.com), der ebenfalls als Ausgangspunkt für Kanutouren genutzt werden kann. Beide Campingplätze verfügen über einen Kanuverleih.
Proviant aufstocken: Einkaufsmöglichkeiten gibt es an den Ufern des Bolmen in den Orten Unnaryd, Bolmsö und Tannaker. Allerdings handelt es sich hierbei nur um kleine Landgeschäfte mit kleinem, aber ausreichendem Sortiment.