Reise Welt

Amerikas vergessener Dschungel

Eine unwirkliche, mystische Welt, ein Labyrinth aus Baumgiganten, urzeitlich anmutende Tiere: Die Zypressensümpfe im tiefen Süden der USA bieten Paddlern ein einmaliges Abenteuer (Text & Fotos: Verena Popp-Hackner und Georg Popp).

Verena Popp-Hackner und Georg Popp

Morgendämmerung irgendwo tief im Atchafalaya-Sumpf Louisianas. Beleuchtet von den ersten Sonnenstrahlen, wandern Nebelschwaden wie kleine Feuer über das dunkle Wasser. Noch ertönt kein Konzert von Millionen von Fröschen, nur eine einsame Eule ruft aus dem Wald heraus. Ohne Kraftanstrengung und beinahe geräuschlos gleitet mein Kajak durch ein Labyrinth aus riesigen Bäumen und bizarren Luftwurzeln hindurch. Alle paar Sekunden ein sanfter Paddelschlag, mehr braucht es nicht. Aus den Baumkronen und von dicken Ästen hängt »Spanish Moss«, kein Moos sondern ein Bromelien-Gewächs, herab und bildet dichte Vorhänge, die jeden tieferen Blick in den mystischen Wald verbergen. Hinter jedem Baum, hinter jedem Bromelienvorhang kann eine Überraschung lauern. Ein dösender Biber, ein Reiher, der gerade einem Fisch auflauert, oder gar ein Alligator. Diese großen Echsen sind zwar zahlreich vorhanden, aber es braucht Übung, um sie zu entdecken. Manchmal überraschen wir uns beide – Paddler und Echse – dann verschwindet der Alligator mit einem lauten Platsch, als wäre ein VW Bus ins Wasser gestürzt, taucht ab und ist verschwunden. Nur die Paddler bleiben mit klopfendem Herz zurück. »Wird schon nicht mehr wiederkommen!«, versichere ich Verena, denn wir müssen nun raus aus den schützenden Kajaks und rein ins Wasser, um das Stativ aufzustellen. Seit gut zehn Jahren kommen Verena und ich regelmäßig hierher und verbringen ein paar Wochen in den Sümpfen.

Ein nasses Wirrwarr aus Bäumen

Es gibt magische Orte auf der Welt, die sind wie geschaffen für Paddler. Die Zypressensümpfe im tiefen Süden der USA zählen mit Sicherheit dazu. Es ist eine Gegend, die selbst in den USA nur wenige Menschen kennen und die von noch weniger Menschen besucht wird. Das liegt freilich nicht an einem Mangel an Schönheit und Magie der Landschaft, auch nicht an den Alligatoren, Spinnen oder Schlangen, sondern vor allem an ihrer Unzugänglichkeit. Ohne Boot geht hier nicht viel.
Ein paar wenige verwegene Leute leben allerdings sogar inmitten der Sümpfe. Sie wohnen in Hausbooten oder skurrilen Stelzenbauten, leben vom Fischfang und von der Jagd. Heutzutage sind dies zwar vor allem Aussteiger oder merkwürdige Hillbillys, doch vor ein paar Jahrzehnten traf man tief in den Sümpfen noch auf weitgehend isoliert lebende Cajuns, die nur Französisch sprachen. Die Cajuns stammten ursprünglich aus frankophonen Teilen Ostkanadas, wurden von dort aber einst von den Briten vertrieben. Darauf siedelten sie sich vorwiegend hier im tiefen Süden der USA an. So mancher Bewohner Louisianas ist den Briten dafür ein wenig dankbar, hat doch die eher französisch beeinflusste Cajun-Kultur und -Lebensart für die allseits beliebte und weltberühmte Küche gesorgt. Würziges Jambalaya, Filet Gumbo versus frittierten Fish’n Chips.

Aber zurück zur Wunderwelt der Zypressenwälder. Als ebenso leidenschaftliche Paddler wie Fotografen fiele es uns schwer zu sagen, welche Eigenschaft hier überwiegt: Märchenhafte Motive wohin das Auge blickt oder die Faszination, mit dem Kajak immer tiefer in das Labyrinth aus Bäumen einzutauchen. Es ist wohl die Kombination aus beidem, der bislang noch jeder Besucher zu verfallen scheint. Um dieses Labyrinth zu erkunden, muss man jedoch zunächst ein paar Hürden bewältigen. Man muss sich das richtige Auto mieten, um danach auf dem Dach ein Kanu befestigen zu können. Man muss einen Kanuverleiher finden, dann recherchieren, wo sich die besten Plätze befinden, um sein Boot zu Wasser zu lassen, und noch ein paar logistische Challenges mehr. Man kann freilich versuchen, am Ufer eines Sumpfes stehend einen Blick von außen in diese mystischen Wasserwälder zu erhaschen oder eine Runde mit einem Touristen-Ausflugsboot zu drehen – am Ende bleibt man so aber zum Zaungast degradiert. Sich zu Fuß auf den Weg zu machen, daran braucht man gar keinen Gedanken zu verschwenden. Man käme keine drei Meter weit, ohne über einen verborgenen Ast oder Baumstamm zu stolpern, die man im trüben Wasser nicht sehen kann. Dort, wo keine Hindernisse unter der Wasseroberfläche lauern, ist das Wasser zu tief oder der Untergrund zu schlammig. Diese Gewässer sind nicht geeignet zum Schwimmen oder Baden – diesen »Genuß« kann man getrost den Reptilien und Fischen und so manchem leicht verrückten Fotografen überlassen.

Wie auf einem anderen Planeten

Wer jedoch einmal herausgefunden hat, wie man mit seinem eigenen Kanu dieser magischen Wildnis ein paar Geheimnisse abringen kann, den lässt sie nicht mehr los. Sowohl im Frühling (März, April) als auch im Herbst (ab Mitte Oktober bis Ende November) herrschen perfekte Bedingungen zum Paddeln und zum Campen. Wer keine Lust hat, im Zelt zu schlafen, mietet sich eine gemütliche Blockhütte in einem der State Parks, die meist direkt am Wasser liegen und viel Komfort bieten. Wenn die Nächte ab Mitte Oktober langsam abkühlen, bildet sich oft Nebel auf dem noch warmen Wasser. In Kombination mit dem bunten Herbstlaub und den skurrilen Luftwurzeln und Stämmen sowie dem mystisch anmutenden Spanish Moss ergibt das eine einzigartige Kulisse. Wer das Glück hat, mit seinem Kajak so einen Morgen zu erwischen, glaubt sich auf einen anderen Planeten versetzt.

Dabei sind die Zypressensümpfe im flachen, tiefen Süden der Vereinigten Staaten eigentlich kein seltener Lebensraum. Zwischen Florida und Texas reihen sich teils gigantische Feuchtgebiete aneinander, von den Everglades bis zum Lake Okefenokee. Allerdings sind viele dieser Gebiete heute baumlos (ein Sumpf ist per Definition jedoch eine Wasserlandschaft, die von Bäumen dominiert ist, mit meist freien Wasserflächen). Weniger bekannt aber dafür imposanter ist das Atchafalya-Becken, das zum Mississippi-Delta zählt. Nirgendwo sonst gibt es ausgedehntere Zypressenwälder. Ein großer Teil des Bassins war einst fast vollständig von riesigen und hohen Sumpfzypressen bewachsen, doch wurden sie bereits um 1900 fast vollständig kahlgeschlagen. Von den einst scheinbar endlosen Sumpf-Urwäldern, blieb nur der sumpfige Boden. Und auch dieser wurde erfolgreich drainagiert oder durch Dämme, die hier Levees heißen, von den Flüssen abgeschnitten. Ein großer Teil der heute sichtbaren Sumpfzypressen ist keine 100 Jahre alt. Aber es gibt dennoch Gebiete, die an die Zeit vor 1900 erinnern, mit Bäumen, die weit über 1000 Jahre alt sind, und einer Fauna, die man gerne mit dem Dschungel im Amazonasbecken vergleichen darf. Beim Lake Caddo in Texas oder beim Lake Fausse Pointe in Louisiana kann man, mit ein wenig Abenteuergeist, fündig werden.

Gefährliche Bewohner

Im trüben Wasser tummeln sich unfassbar viele Lebewesen. Mehr und größere als man ahnen würde. Mitunter auch Furcht einflößender. Allseits bekannt sind die eingangs bereits erwähnten heimischen Mississippi-Alligatoren. Sie können an die sechs Meter lang und beinahe 500 Kilogramm schwer werden. Sie verstecken sich nicht und sonnen sich gerne an Baumstämmen. An Menschen sind sie nicht interessiert, obwohl es schon Fälle gab, wo dies den Panzerechsen offenbar nicht bekannt war. Der seltsame Löffelstör hingegen ist harmlos und kann bis zu zwei Meter lang werden, die Geierschildkröte bis zu 180 Kilogramm schwer. Die am Grund auf Beute lauernde »Alligator Snapping Turtle« kann mit ihrem kräftigen Biss schon mal eine Hand oder ein paar Zehen samt Gummistiefel »amputieren«. Auch nicht von schlechten Eltern ist der Alligator-Hecht. Ein mit großen, spitzen Zähnen bewaffneter Süßwasserfisch der Gattung Knochenhechte, der wie ein Urzeit-Überlebender aussieht und über drei Meter lang und 130 Kilogramm schwer werden kann.

Weil sich das Erforschen der Sumpf-Fauna wegen des immer trüben Wassers auch für Wissenschafter seit jeher kompliziert gestaltet, hat man in den 1950er Jahren da und dort ein paar Dynamitstangen ins Wasser geworfen und war fassungslos, wie viele tausende Fische in allen Größen plötzlich regungslos an der Oberfläche trieben. Heute ist man diesbezüglich etwas umsichtiger und versucht anhand wissenschaftlicher Projekte den Geheimnissen der Sümpfe auf die Spur zu kommen. Zahlreiche Angler tragen mitunter zu neuen Erkenntnissen bei, indem sie Bilder und Fangorte ihrer ungewöhnlichen Beute an die Biologen weiterleiten.
Apropos Angler – kleine Nebenstory: Angesichts des respekteinflößenden Sumpfgetiers mutet eine spezielle Fischfangmethode unter den (in dem Fall meist männlichen) Locals hier im tiefen Süden ganz besonders seltsam an: das »Noodeling«. Dabei begibt man sich mit ganzem Körper ins sumpfige Wasser und stochert mit den bloßen Händen oder gar Armen unter Wasser in Höhlenbauten der schmackhaften Welse herum. Verwechselt so ein Wels den Arm mit Beute, verschlingt er ihn. Allerdings hat der Wels keine scharfen Zähne, und so kann der verwegene »Noodeler« den Fisch an die Oberfläche bringen und – oftmals unter Schmerzen – den Arm wieder aus dem Maul ziehen. Natürlich ist das nicht ganz ungefährlich, denn es kommt vor, dass in so einer vermeintlichen Wels-Höhle eine Geierschildkröte lauert …

Paddeln durch den Wasserwald

Aber daran muss man ja nicht unbedingt denken, wenn man mit dem Kanu durch diesen Wasserwald gleitet. Besonders atemberaubend ist es im Spätherbst. Ab November gibt es über der Wasseroberfläche viel mehr zu bewundern. Als einzige Vertreterin der Zypressengewächse wirft die Sumpfzypresse im Winter ihr Laub ab. Nicht ohne zuvor für ein echtes Herbstfarben-Spektakel zu sorgen. Mit den ersten kalten Nächten verfärben sie sich gelb, rotbraun und mitunter orangerot. Riesige, bizarre Bäume stehen dann mit farbenfroher Krone im Sumpf. Teils treibt das bunte Laub im dunklen Wasser oder sammelt sich beim Herabfallen an den Luftwurzeln. Zugvögel, die im Winter das warme Louisiana aufsuchen, versammeln sich nun gerne auf den großen Bäumen. Eine beliebte Jahreszeit im tiefen Süden, wenn nicht sogar die beliebteste. Keine Hitze mehr, keine Mückenschwärme. Zu Halloween und später rund um Thanksgiving, am vierten Donnerstag im November, ziehen die Einheimischen in Scharen zu den diversen Campgrounds am Rande der Sümpfe. Man angelt, grillt am Lagerfeuer und schaut abends, inmitten der schönen Natur, via mobiler Satellitenschüssel American Football. Danach kehrt wieder Stille ein in den Sümpfen, obwohl der Herbst durchaus noch eine Weile dauern kann. Der bleibt dann den Paddlern und ein paar hartnäckigen Fotografen vorbehalten.

Drei Sümpfe für Paddler

Drei Gebiete, die sich für einen Paddelurlaub in den Zypressensümpfen eignen:
· der Caddo Lake State Park bzw. Caddo Lake an der Grenze zwischen Texas und Louisiana, nahe Shreveport. Ausgehend vom State Park (Campground und Cabins) kann man das Gebiet am riesigen Caddo Lake anhand einiger Kanu-Trails ganz individuell erkunden. Im Ort Uncertain, der direkt am Caddo Lake liegt, kann man einige Privatquartiere finden. Sieht der Caddo Lake auf einer Karte wie ein offener See aus, so ist er in Wahrheit ein echter Sumpf. Das Klima am Caddo Lake ist kontinental und unterscheidet sich etwas von den beiden anderen. Beste Zeit ist hier April und Mai (Frühling) und für Herbsttouren Mitte Oktober bis (maximal) Mitte November. Im State Park kann man Kanus mieten. Das Gebiet ist etwa drei Fahrstunden von Houston entfernt.
· der Chicot State Park bzw. Lake Chicot in Louisiana zwischen Alexandria und Lafayette. Auch hier bietet der State Park sowohl Campsites als auch (sehr) gemütliche Cabins – anders als am Caddo – direkt am Wasser. Das Gebiet ist groß genug, um eine Woche lang mit dem Erkunden per Boot beschäftigt zu sein. Kanus kann man auch hier mieten. Lake Chicot erreicht man am besten von New Orleans aus (rund vier Stunden) via Highway 10 und 49.
· der Lake Fausse Pointe State Park nahe Lafayette. Auch hier gibt es sowohl Campground als auch (sehr) komfortable Cabins direkt am Wasser. Kanus und Kajaks gibt es im State Park zu mieten. Auch dieses Gebiet ist riesig, und man braucht eine Weile und einige (jedoch immer schöne) Kajaktouren, um sich zurechtzufinden. Das Gebiet erreicht man in rund drei Stunden ab New Orleans auf dem Highway 10.
Sowohl Chicot als auch Lake Fausse Pointe sind aufgrund der Nähe zum Meer klimatisch vom Golf von Mexiko beeinflusst. Der Frühling beginnt schon Anfang März, ab Mai wird es meist zu heiß. Die beste Zeit im Herbst beginnt ab Mitte Oktober und kann bis in den Dezember dauern.

· Ein paar nützliche Links: Caddo Lake State Park, https://tpwd.texas.gov/state-parks/caddo-lake; Chicot Lake, https://www.lastateparks.com/parks-preserves/chicot-state-park; Lake Fausse Pointe, https://www.lastateparks.com/parks-preserves/lake-fausse-pointe-state-park; Pack & Paddle store, www.packpaddle.com

Praktische Tipps

· Wer unabhängig von den Leihkanus in den State Parks (geht meist nur tageweise) sein Kajak/Kanu für eine längere Zeit mieten will, ist beim Pack & Paddle Store in Lafayette am besten aufgehoben. So ist man ungebunden und kann auch mehrere Gebiete erkunden. In dem Fall empfiehlt sich immer eine Anreise ab New Orleans.
· Cabins immer gut sechs Monate vorab reservieren, die sind oft gut gebucht!
· Watstiefel erweisen sich oftmals als praktisch, besonders wenn es ums unkomplizierte Ein- und Aussteigen geht oder wenn man für ein Foto mal aus dem Boot aussteigen will. Kann man mitbringen oder in einem Sportgeschäft für etwa 70 bis 100,- US Dollar kaufen.

Weiter schwelgen …

Als Einstimmung auf eine Reise (aber auch für danach) oder einfach nur für das Schwelgen in unglaublich mystischen Bildern bietet sich das Buch der Autoren dieser Reportage an: »Cypress Swamps – Americas forgotten jungle«. Neben den schönsten Fotos aus zehn Jahren enthält dieser opulente Bildband zahlreiche Tipps und Infos (Verena Popp-Hackner, Georg Popp, David Chauvin, 208 Seiten, 28×28 cm, ca. 300 Fotos, 65,- zuzüglich Versand, bestellbar nur per E-Mail unter office@popphackner.com (Name und Lieferadresse angeben).