Interview

Ein »Präsident der Mitte« – in schwierigen Zeiten

Seit dem 20. November 2021 ist Jens Perlwitz Präsident des Deutschen Kanu-Verbandes – und damit »Oberhaupt« aller organisierten Paddler in Deutschland. Im Interview mit dem KANU Magazin wirft er einen ausführlichen Blick auf die Lage des Kanusports in Zeiten von Pandemie und Krieg.

großes Bild: Oliver Strubel (DKV)

Herr Perlwitz, erst Pandemie, dann auch noch Krieg in Europa – wie geht es dem Kanusport, ganz allgemein gesprochen?

Wir sortieren uns nach den letzten zwei anstrengenden Jahren. Die Hoffnung, wieder zur Routine zurückzukommen, ist durch den Ausbruch des schrecklichen Krieges in der Ukraine zunichte gemacht worden. Die einzelne Paddlerin und der einzelne Paddler versuchen, die alten Gewohnheiten wiederaufzunehmen. Die Vereine, die Landeskanuverbände und wir versuchen, den Kanusport wie vor dem Ausbruch der Pandemie zu leben. Ganz allgemein gesprochen, geht es uns, geht es unserem Kanusport ganz gut.

Und wie stellt sich die Lage aus Sicht des DKV dar, aus Sicht der Landesverbände und Vereine?

Bei der oberflächlichen Gesamtbetrachtung »nach Corona« können wir sagen, dass der Bundesverband, die Landeskanuverbände und auch der größte Teil der Vereine mit einem »blauen Auge« davongekommen sind. Einzelne Vereine haben aber schon stark gelitten, hauptsächlich im Nachwuchsbereich oder aber auch zum Beispiel im Drachenboot-Rennsport, wo die Auflösung einer erheblichen Anzahl von Teams zu beklagen ist.

Wie haben sich die Mitgliedszahlen in den vergangenen Jahren entwickelt?

In den letzten drei Jahren konnten wir einen Mitgliederzuwachs von rund drei Prozent verzeichnen. Da könnte man »Hurra« schreien, wenn nicht die Betrachtung der Mitgliederzahlen im Nachwuchsbereich mit einem Rückgang von circa 14 Prozent zum Nachdenken anregt. Dieses Minus wird durch den Zuwachs bei den Erwachsenen zwar ausgeglichen, kann aber für den Leistungssport Probleme bringen, wenn in der Zukunft der Nachwuchs mit seinen Talenten fehlt!

»Das Minus im Nachwuchsbereich kann für den Leistungssport Probleme bringen.« Foto: Getty Images

Ganz ehrlich: Warum sollte man als Paddler einem Verein beitreten?

Die Frage ist unter anderem von der Trendsportart SUP beantwortet worden. Viele »freie« Standup-Paddler haben schnell erkannt, dass ein Lagerplatz für das SUP bequemer ist, als dieses hin und her zu fahren, immer neu aufblasen zu müssen. Und so haben viele den Weg in unsere Vereine beziehungsweise Bootshäuser gefunden, wo sie für kleines Geld vom Lagerplatz, Umkleiden und Duschen profitieren. Daneben gibt es die Sportversicherung inklusive, die Ausbildung zum nachhaltigen Nutzen der Gewässer, gemeinsames Paddelsporterlebnis, wenn man dies will. Und daneben wird man Mitglied der Solidargemeinschaft »organisierter Sport«, die sich jetzt zum Beispiel dafür einsetzt, dass auch wir im Kanusport von den Hilfen der Bundesregierung für die steigenden Energiekosten profitieren. Und diese »Solidargemeinschaft« setzt sich dafür ein, dass wir uns auch in Zukunft, soweit dies vertretbar ist, frei auf unseren Gewässern bewegen können. Also genug Gründe, einem Verein beizutreten und nicht als Trittbrettfahrer die Vorzüge einer organisierten Sportart auszunutzen.

Wie beurteilen Sie den Organisationsgrad der Paddler von heute, gerade der neu hinzugekommenen »Pandemie-Paddler«, in Hinsicht auf Ausbildung, Vereinszugehörigkeit et cetera?

Die neu hinzu gekommenen Mitglieder sind erschreckend ahnungslos. Sie wollen meistens lospaddeln, ohne beispielsweise zu wissen, dass sie sich auf einer Wasserstraße bewegen, für die es »Verkehrsregeln« gibt, dass aus Gründen der Sicherheit Mindeststandards einzuhalten sind und dass es für die aus ihrer Sicht »freien« Gewässer auch Befahrungsregeln geben kann. Eine Missachtung dieser Mängel im Organisationsgrad führt in der Regel dazu, dass der organisierte Kanusport in Misskredit kommt und dass die Position des Kanuverbandes gegenüber den Behörden (Wasserschutzpolizei, kommunale Ordnungsbehörden sowie unteren und oberen Naturschutzämtern) geschwächt wird.

Manche Branchenvertreter sehen in der zunehmenden Verstädterung der Gesellschaft ein zunehmendes Problem für unseren Sport. Stichwort: winzige Kellerräume statt Doppelgaragen, ergo wenig Lagerplatz für ein langes Festboot. Stimmen Sie dieser pessimistischen Prognose zu?

Dieser Ansicht kann ich mich nicht verschließen. Unter anderem dafür gibt es ja unsere Vereine, die in den meisten Fällen mit einem Lagerplatz im Bootshaus Abhilfe schaffen können. Ich weiß aber auch, dass wir nicht genug Lagerplätze in den Vereinen hätten, wenn alle »freien«, unorganisierten Paddlerinnen und Paddler in die Vereine strömen würden. Aber ich komme zurück auf eine der vorangegangenen Fragen und rufe den neuen Paddlerinnen und Paddlern zu: Wendet Euch an die Vereine, Euer Bootshändler kann Euch sicher einen Verein nennen, den ihr ansprechen könnt.

»Unter anderem dafür gibt es ja unsere Vereine, die in den meisten Fällen mit einem Lagerplatz im Bootshaus Abhilfe schaffen können.« Foto: Shutterstock

Wie engagieren sich der DKV und seine Landesverbände für den Schutz der Gewässer?

Wir alle beteiligen uns zusammen mit anderen Natursportarten zum Beispiel an Reinigungsaktionen von Flüssen und Seen, wir melden den zuständigen Behörden festgestellte Verschmutzungen im Paddelrevier. Daneben sind unsere Mitglieder geschult und achten darauf, dass umweltschonend gepaddelt wird. Durch ständige Fortbildungen unserer Kanu-Akademie und der Fortschreibung unserer Ausbildung ist sichergestellt, dass die Beeinträchtigung der Gewässer durch die Nutzung unserer Mitglieder auf ein Minimum reduziert wird. Direkte Kooperationen mit Umweltverbänden gibt es dabei zwar nicht, wir arbeiten aber projektbezogen zusammen mit dem BUND, dem WWF, dem NABU.

»Wir alle beteiligen uns zusammen mit anderen Natursportarten an Reinigungsaktionen von Flüssen und Seen.« Foto: Getty Images

Inwieweit wirkt sich der Klimawandel bereits auf die Gewässer und somit auf den Kanusport aus?

Die trockenen Sommer der letzten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Niedrige Pegelstände der Flüsse verbieten es, dass wir aufs Wasser gehen, wenn die Gefahr besteht, dass Flora und Fauna unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Die Durchführung der Kanuslalom-Weltmeisterschaft im letzten Jahr stand auf der Kippe, weil der Lech nicht genügend Wasser führte. Die Natur hatte dann doch noch ein Einsehen und ließ es in der Woche vorher noch regnen, und mit der Ableitung von Wasser aus der »Schülerstrecke« am Eiskanal war die WM gesichert.
Wir müssen also verantwortungsvoll mit den noch nutzbaren Paddelressourcen umgehen.
Ich selbst beobachte traurig den fortschreitenden Klimawandel an meinem Wildwasser-Hausbach, der Brandenberger Ache in Tirol. In den 70ern des letzten Jahrhunderts konnte ich dort noch bei Süddeutschen Meisterschaften die lange Rennstrecke mit einem Wildwasser-C II befahren, durch den Saugraben, bis nach Kramsach zum Ziel Duftnerbrücke. Das ist schon lange nicht mehr möglich. Zwar gab es noch ein paar Mal Deutsche Meisterschaften auf immer kürzer werdenden Strecken, wegen des ständig sinkenden Pegels und der damit verbundenen Unsicherheit bei der Wettkampfplanung kann es dort keine Wettkämpfe mehr geben. Und auch für die Wildwasserfahrer (Bongofahrer) ist die Ache als Ganzjahresrevier wegen des niedrigen Pegels uninteressant geworden.

Wie steht der DKV zu Befahrungsverboten? Gibt es Situationen, in denen Sie sagen »Ja, hier ist ein Verbot gerechtfertigt« – auch für gut ausgebildete, umweltbewusste Vereinspaddler?

Grundsätzlich versuchen wir, Befahrungsverboten entgegen zu wirken. Unser Verband hat aber auch gelernt, dass man Kompromisse eingehen muss. Vor dem Hintergrund eines immer stärker werdenden Naturschutzes müssen wir akzeptieren, dass wir an einigen Stellen vom Allgemeingebrauch in letzter Instanz ausgeschlossen werden. Auch wenn wir gut ausgebildet und umweltbewusst sind.

»Niedrige Wasserstände verbieten es, dass wir auf's Wasser gehen, wenn die Gefahr besteht, das Flora und Fauna unverhältnismäßig beeinträchtigt werden.« Im Bild der Tagliamento. Foto: Shutterstock

Die deutschen Kanu-Leistungssportler machen auf internationalem Parkett immer wieder mit großen Erfolgen von sich reden. Woher kommt diese Stärke?

Wir haben eine hervorragend arbeitende Abteilung Leistungssport und sind mit unserer Verbandsstruktur gut aufgestellt. Die Olympischen Sportarten Kanu-Slalom und Kanu-Rennsport sowie Parakanu-Rennsport werden hauptamtlich geführt und von einem Team von hauptamtlichen Trainern betreut, das mit der wissenschaftlichen Unterstützung des IAT (Anm. d. Re.: Institut für Angewandte Trainingswissenschaft) sowie FES (Anm. d. Re.: Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten) eng zusammen arbeitet. Die Konzentration der Spitzenpaddlerinnen und -paddler auf Leistungsstützpunkte trägt mit dazu bei, dass diese sich beim Training immer den Herausforderungen ihrer nationalen Konkurrenten am Stützpunkt stellen müssen. Das fördert die Motivation und bringt den Paddlerinnen und Paddlern letztlich den Erfolg.
Die großen Erfolge im nichtolympischen Sport muss ich zudem hervorheben. Dort profitieren wir von der Einsatzbereitschaft unserer ehrenamtlichen Trainer und Betreuer, die mit einem Engagement für ihren Sport brennen, die ihresgleichen sucht.

Sie selbst kommen aus dem Leistungssport, haben aber bei Ihrer Antrittsrede im November 2021 erklärt, ein »Präsident aus der Mitte« sein zu wollen. Was meinen Sie damit?

Die Olympischen Ringe, das heißt der Hochleistungssport unter diesem Wahrzeichen, könnte dazu verleiten, den Schwerpunkt der Vertretung der Paddlerinnen und Paddler durch den Präsidenten auf diesen Bereich zu legen. Damit würde man aber dem weit überwiegenden Teil unserer Mitglieder, die dem Freizeitsport zuzurechnen sind, unrecht tun. Sie sind es letztlich, die die Grundlage für die erfolgreiche Arbeit in unserem Verband sind. Daher habe ich den Begriff »Präsident aus der Mitte« gewählt, um deutlich zu machen, dass ich mich nicht minder stark für den Freizeitsport als für den Leistungssport einsetzen werde. Zumal meine ersten Berührungen mit dem Kanusport in den 60ern Jahren des letzten Jahrhunderts nicht der Leistungssport, sondern der Freizeitsport, das Wasserwandern, war.

»Eine hervorragend arbeitende Abteilung Leistungssport.« Im Bild Ricarda Funk, eine der international erfolgreichen deutschen Kanutinnen. Foto: Getty Images

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft. Welche Entwicklungen und Trends sehen Sie in den nächsten Jahren im Kanusport, sowohl im Freizeit- als auch im Wettbewerbsbereich? Und gibt es vielleicht sogar Dinge, die sich in unserem Sport ändern müssten?

Ich beobachte und lebe den Kanusport seit fast 60 Jahren und komme zu der Feststellung, dass unsere Paddlerinnen und Paddler in Deutschland überwiegend konservativ geprägt sind. Sie tun sich schwer mit Änderungen im Leistungssport sowie im Freizeitsport. Aber: Nichts wird so bleiben wie es war. Im Leistungssport werden wir uns an andere Wettkampfformate, andere Gestaltung der Boote gewöhnen müssen, im Freizeitsport an andere Voraussetzungen für das Paddeln in freier Natur, für beide Bereiche natürlich unter dem Eindruck von Einschränkungen, die den geänderten wirtschaftlichen Bedingungen und dem Klimawandel geschuldet sind. Vor diesem Hintergrund werden wir auf den Zug unserer Zeit aufspringen müssen, der von dem Begriff »Nachhaltigkeit« geprägt ist. Mir fehlt allerdings die Vorstellungskraft, das gebe ich ehrlich zu, wie die Bedürfnisse unseres Sports in der Gegenwart so befriedigt werden können, dass die Möglichkeiten zukünftiger Generationen unserer Paddlerinnen und Paddler nicht eingeschränkt werden.

Zur Person

Am 20. November 2021 trat Jens Perlwitz die Nachfolge von Thomas Konietzko im höchsten Amt des Deutschen Kanu-Verbandes an. Beim Kanutag in Leipzig wurde er an diesem Tag zunächst für vier Jahre gewählt – in der 100jährigen Geschichte des Deutschen Kanu-Verbandes ist der 73jährige Rechtspfleger im Ruhestand aus Kassel somit der zehnte Präsident.
Schon in seiner Antrittsrede wies Perlwitz auf die »vielen gut funktionierenden Dinge« und »hervorragende Organisation« im Verband« hin, betonte aber auch: »Wir werden uns den in den letzten Jahren gestiegenen Anforderungen an unseren Verband stellen müssen, sei es im Freizeit- oder im Wettkampfsport. Ich habe schon vor einiger Zeit gesagt, dass wir stets darauf achten müssen, nicht auf der Stelle zu treten. Zukunftsprozesse dürfen wir nicht an uns vorbeifahren lassen.«
Bei den vielfältigen Aufgaben als DKV-Präsident kann sich Perlwitz auf einen langjährigen Erfahrungsschatz verlassen. Seine ehrenamtliche Laufbahn startete er schon Mitte der 70er Jahre, zunächst als Sportwart in der Kanuvereinigung Kassel. 1980 erwarb er die A-Lizenz als Trainer und konnte somit auch Nationalteams betreuen. Seitdem leitete er hunderte Jugendliche beim Kanusport an, von denen viele erfolgreich an nationalen und internationalen Wettkämpfen teilnahmen.
1991 betreute Perlwitz als Teamchef erstmals die deutschen Kanuten bei der Weltmeisterschaft in Bovec auf der Soča, damals noch jugoslawisches Staatsgebiet. Dem folgten hochrangige Aufgaben in der nationalen und internationalen Verbandsarbeit, darunter 1997 die Berufung in die Wildwasserrennsport-Kommission der Internationalen Kanu-Föderation (ICF) sowie von 2006 bis 2016 der Vorsitz dieser Wildwasser-Kommission.
Zwischen 2006 und 2014 war Perlwitz Präsident des Hessischen Kanu-Verbandes, von dem er nach seinem Ausscheiden zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde.
Weitere Infos zum Deutschen Kanu-Verband: www.kanu.de

DKV-Präsident Jens Perlwitz. Foto: Oliver Strubel (DKV)

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