Szene

Aufholjagd auf wildem Wasser

Das Wildwasser-Paddeln wird immer noch von Männern dominiert.
Doch junge Frauen wie Lena Grüb und Andrea Kaspers wildern im Revier der Herren der Schöpfung. Und das mit viel Erfolg.

München, Zentralländstraße. Lena Grüb und Andrea Kaspers sind beim Gespräch im Bootshaus des MTV München guter Dinge. Selbstbewusst und mit viel Augenzwinkern erzählen sie von ihren Erlebnissen und davon, wie sie zum Paddelsport gekommen sind. Wobei schnell deutlich wird: Die beiden, zwischen die auf den ersten Blick kein Blatt Papier passt, verfügen über einen völlig unterschiedlichen Hintergrund: Lena kommt seit jeher von den wilden Bächen dieser Welt, Andreas Paddelanfänge liegen dagegen im Wettkampfsport.

(Foto: Daniel Riedmüller)

Lena Grüb

Lenas Kajak-Karriere begann wie so viele andere: in der Familie. »Ich bin über meine Eltern zum Paddeln gekommen«, erzählt sie. »Geboren wurde ich an einem Tag, an dem meine Eltern einen Diaabend im Kanuverein geplant hatten.« Als Kleinkind ist Lena also viel mit Vater, Mutter und Schwestern im Schlauchcanadier unterwegs, und so erinnert sie sich an Touren auf der Loisach, der Isar und der Kössener Ache, in Südfrankreich und Italien. Mit sechs oder sieben wird ihr der Schlauchcanadier zu klein – oder eher zu groß, denn nun steigt sie ins Kajak um.
Die Familie steht aber nach wie vor im Mittelpunkt. Um die Kinder weiterhin zum Familienurlaub zu motivieren, streben die Eltern nun ambitioniertere Ziele an. 2008 brechen die Grübs mit dem Verein an den Euphrat auf, ein Jahr später nach Montenegro. 16 Jahre ist Lena damals, und danach werden die Familienurlaube weniger. Und nicht nur das: »Das ganze Paddeln stand ein bisschen auf der Kippe, da ich wenig gleichaltrige Bootsfahrer-Freunde hatte«, erinnert sich Lena. Zudem ist das Paddeln in dieser Zeit nicht ihre einzige Outdoor-Freude: Sie klettert in einer Hochtouren-Gruppe und steht mit 17 Jahren auf dem Montblanc – unter anderem.
Doch schon bald finden sich Freunde mit Paddel-Begeisterung – ein bisschen älter als sie, dafür aber im Besitz eines Führerscheins. Also geht es an Ostern 2012 nach Korsika, und im Jahr darauf gleich nochmal. Die Wildwasser-Fahrten hätten ihr »super gut gefallen«, erzählt Lena, obwohl dabei ein gewisses Problem auftaucht: Die junge Lena kann sich nicht so recht mit dem Rollen anfreunden. Einigermaßen beherrscht habe sie das zwar schon, seit sie es mit 13 im Schwimmbad gelernt habe, aber erst mit 17 sei ihr auf der Venter Ache die erste formvollendete Rolle gelungen. Es ging halt meist auch ohne – »und, ehrlich gesagt, ist das Rollen bis heute nicht meine größte Stärke«, sagt Lena und schmunzelt über der FFP-Maske mit den Augen.

Selfie mit guter Laune in Norwegen.

Nach dem Abi nimmt Lena ein Studium der Geografie auf. Günstig für das Paddeln, denn die Semesterferien lassen dafür reichlich Raum. Und so geht es 2014 nach Australien. Und noch im gleichen Jahr für 13 Monate nach Mexiko. Der eigentliche Grund dafür ist zwar ein Studienaufenthalt, aber schon bald verbringt sie »immer weniger Zeit an der Uni und immer mehr im Boot«. Als Frau sei sie damals unter den einheimischen Paddlern »ein bisschen so etwas wie ein bunter Hund gewesen«, erinnert sich Lena: »Die Herren wollten mich nichtmal mein Boot selbst aufladen lassen. Doch wer paddeln will, muss auch Boote laden. So ist das mit der Gleichberechtigung. Irgendwann durfte ich mithelfen.« Aus vollen Zügen genießt Lena die Zeit auf dem Río Alseseca, dem Jalacingo, Filobobos und dem Río Oro. »Wochenlang Wasserfälle fahren«, so blickt sie zurück, und es wirkt fast, also wolle sie am liebsten morgen dorthin zurückkehren.
Trotzdem entdeckt Lena zunächst eine andere Destination für sich: Zwischen 2016 und 2021 zieht es sie insgesamt fünf Mal nach Norwegen. Sagenhaftes Wildwasser, wildes Übernachten, Verlässlichkeit bei den Wasserständen, dazu der Umstand, dass dort noch »viele gute Bäche offen« seien – all das sind für Lena schlagende Argumente für das skandinavische Land.
2019 legt sie ihre Masterarbeit in Geografie ab. Am Tag danach fliegt sie nach Peru. Die ersten zehn Tage verbringt Lena mit einer Kajakschule am Marañon, bekommt »große Augen beim Anblick des Wuchtwasser«. Nach zwei Wochen fliegt der Großteil der Reisegruppe zurück nach Hause. Lena bleibt, zusammen mit zwei Freundinnen, insgesamt zwei Monate lang. Heute erinnert sie sich an extrem fordernde Mehrtagestouren im Süden des Landes: »Die Locals trauten uns viel zu, scheuchten uns überall runter. Einmal haben wir 70 Kilometer lang keinen Menschen und kein Haus gesehen.« Jeden Tag im Boot, vom Sonnenaufgang bis nachmittags, Anfahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln – über 4000 Kilometer mit Rikschas, Bussen und Kleinbussen.«
Vier Jahre zuvor hat Lena auf der PaddleExpo 2015 eine Bekanntschaft gemacht, die ihr weiteres Paddelleben prägen soll: Als sie auf der Messe eine Rückfahrgelegenheit ins heimische München sucht, nimmt Andrea Kaspers sie mit, die auch dort lebt. Nicht gesucht, aber gefunden.

2019 erlebt Lena Grüb zwei fordernde Wildwasser-Monate in Peru. (Foto: Vera Knook)

Andrea Kaspers

Bis dahin verläuft die Paddelkarriere von Andrea Kaspers völlig anders als die von Lena. Obwohl, eine Gemeinsamkeit gibt es doch: Die kanusportlichen Anfänge liegen in der Familie, denn beide Brüder paddeln in der Kanu AG am Konrad-Adenauer-Gymnasium in Bonn. Also mischt Andrea ab 2003 dort ebenfalls mit und nimmt im gleichen Jahr am KanuCamp in Haiming teil. Schon bald orientiert sie sich in Richtung Wettkampfsport. 2007 beginnt sie mit Kanu-Freestyle, und noch im gleichen Jahr nimmt sie in Augsburg erstmals an einer deutschen Meisterschaft teil. An ihren größten Erfolg dabei erinnert sie sich mit einem Schmunzeln: »Als einzige der teilnehmenden Juniorinnen musste ich nicht schwimmen, obwohl ich nicht einmal wusste, wie man kontrolliert aus der Waschmaschine wieder rauskommt.«
Ab 2009 startet Andrea in der Damenklasse – der Auftakt zu einer ganzen Serie von Erfolgen: Mehrmals holt sie zweite Plätze bei den Deutschen Meisterschaften, im Jahr 2015 steht sie selbst ganz oben auf dem Podest.

Multi-aktiv: Andrea Kaspers unterwegs im Hochgebirge in Chile. (Foto: Julian Schmidt)

Auch international mischt sie schon bald kräftig mit, bei Eurocups und Worldcups, Europa- und Weltmeisterschaften. Die größten Erfolge dabei: ein dritter Platz bei der EM 2008 im spanischen Ourense (noch als Juniorin), neunte Plätze bei den EMs 2012 in Lienz und 2014 in Bratislava, ein 19. Platz bei der WM 2013 in Plattling, ein siebter Platz bei der EM 2016 gleichfalls in Plattling und ein 21. Platz bei der WM 2015 in Kanada. Außerdem nimmt sie in der Squirt-Damenklasse an den deutschen Meisterschaften und der EM 2012 teil. Das Resultat: deutsche Meisterin und vierter Platz bei der EM. Im Jahr 2014 tritt die frischgebackene Diplom-Verwaltungswirtin (Abschluss 2013) in Wildalpen im C1 an – und holt prompt den dritten Platz, vor dem damals amtierenden deutschen Meister. Auch an diesen Erfolg blickt sie mit einem guten Schuss Selbstironie zurück: »Ich hatte lediglich einen Spin gemacht und damit zehn Punkte geholt – dabei war ich froh, dass ich nicht schwimmen musste, sondern den C1 gerollt bekommen habe.« Der deutsche Meister habe eine Menge Tricks gezeigt, sie aber nicht gewertet bekommen – selbst für den Moderator sei das Ergebnis überraschend gewesen.

Andrea Kaspers auf dem Río de los Nevados in Chile. (Foto: Daniel Riedmüller)

Eher nebenbei hat die Wettbewerbs-Kanutin Andrea bis dahin Erfahrungen im Wildwasser gesammelt. Ihr erster Wildwasser-Urlaub nur mit Freunden und außerhalb vom jährlichen KanuCamp ist eine Alpen-Rundreise 2010, kurz nach dem Abitur. Zwar unternimmt sie weiterhin Reisen in Sachen Freestyle, zum Beispiel nach Uganda oder zur WM in Kanada, doch das Wettbewerbs-Paddeln räumt nun den ersten Platz auf dem Prioritäten-Podest – das Wildwasser spielt ab jetzt die erste Geige.
Und dann kommt die PaddleExpo 2015. Und mit ihr die gemeinsame Heimfahrt nach München mit Lena Grüb.

Auch als der Wettbewerbssport aus dem Fokus rückt, unternimmt Andrea Kaspers noch Reisen in Sachsen Freestyle. So nach Uganda (Bild) oder zur WM in Kanada. (Foto: Daniel Riedmüller)

Gemeinsam auf wilden Wassern

Die erste gemeinsame Unternehmung führt die beiden im Februar 2016 nach Ecuador. Ein Auftakt mitten in die Vollen: Auf dem Fluss Topo stehen 15 Kilometer WW5 auf dem Programm – und das trotz einer gewissen Links-Rechts-Schwäche der einheimischen Vorfahrer – was durch Sprachprobleme nicht besser wurde . Und der Río Sardinas Grande erwartet Andrea und Lena mit einer ruppigen Überraschung: »Der Flussführer sagte WW3+ voraus, aber der Fluss ist sehr kontinuierlich – man sollte also WW4 beherrschen«, sagt Andrea. Und der Fluss führt sehr viel mehr Wasser als erwartet – zu viel für die Teilnehmer der Expedition: »Alle paar 100 Meter hörte jemand auf«, sagt Andrea. »Niemand kam am Ziel an.«
Nichts, was die beiden Mädels entmutigen könnte. Im Oktober 2016 unternehmen Lena und Andrea beim Treffen des Alpinen Kajak Klubs (AKC) ihre persönliche Erstbefahrung der Rissbachklamm.
Und zum Jahresende 2016 wird dann das verwirklicht, was schon länger in den Köpfen der beiden herum spukt: Die erste reine Mädelstour führt mit sechs jungen Damen nach Mexiko. »Nachdem einige Jungs gesagt hatten, dass wir das eh nicht schaffen würden, wollten wir ihnen das Gegenteil beweisen«, erinnert sich Andrea. Und Lena ergänzt: »Zunächst brauchten wir ein bisschen Zeit. Innerhalb der Gruppe mussten wir klarstellen, dass alle für die Sicherheit zuständig sind. Ein paar Freundinnen mussten sich erst daran gewöhnen, dass jede im Zweifelsfall gefragt war.« Dann aber läuft alles wie geschmiert: »Locker, ohne Probleme«, erinnert sich Lena mit einem Schulterzucken.
2019 starten Andrea und Lena nach Chile – wieder im Rahmen eines reinen Mädelstrips. Auf dem Plan stehen Befahrungen einer ganzen Reihe Flussklassiker: Laja und Fuy, Palguin und San Pedro, Claro und Futa. Ein voll gestopftes Programm. Zum Glück kennt Andrea bereits den einen oder anderen Fluss. Zwei Jahre zuvor ist sie schon einmal hier gewesen – und das ganze sieben Wochen lang.
»Und dann kam Corona, und wir sind erstmal wandern gegangen«, erinnert sich Lena. Daneben befahren sie aber auch die Loisach, machen Bekanntschaft mit dem Tourenpaddeln und umrunden den Starnberger See. »Das war anstrengender als alle Flüsse«, sagt Lena, und eine leichte Bewegung der FFP-Maske lässt vermuten, dass sie lächelt. Und Andrea fügt hinzu: »Als es auf dem Rückweg mühsam wurde, haben wir uns gefragt: Warum machen wir das eigentlich?« Ob sie so etwas nochmal tun würden? Nein, eher nicht, da sind sich die beiden einig. Lieber werden sie von wildem Wasser einen Fluss hinab gespült – Lena heutzutage in einem Prijon Pike, Andrea im Black Jack von Spade Kayaks.

Damen-Wahl

Und was macht nun einen Kajakurlaub nur mit Frauen aus? Über diese Frage müssen beide kurz nachdenken. Dann sagt Lena: »Wenn man nur mit Mädels paddelt, haben wir alle festgestellt, dass wir grundsolide unterwegs sind. Man verlässt sich auf die eigenen Skills, muss alles selber einschätzen und eigenständig für die Sicherheit sorgen.« Und Andrea meint: »Wenn nur Frauen in der Gruppe sind, ist das ein anderes Bootfahren. Man hat weniger Druck – und stellt trotzdem danach fest, dass man sogar mehr gefahren ist.« Beide erinnern sich an Stimmen von Leuten, die behaupteten, dass ein reiner Mädelstrip zu echtem Wildwasser gar nicht möglich sei. Das habe sie angespornt, betonen sie. Schließlich, so Andrea, könnten Frauen viele Sachen genauso gut – und würden manche Stellen sogar schöner fahren. Und der Anteil der Frauen im Wildwasser-Sport dürfte weiter steigen, vermutet sie: »Neben uns gibt es zwar schon eine Handvoll guter weiblicher Wildwasser-Kajakfahrer. Aber natürlich hoffen wir, dass es noch mehr werden!«
Was Nachwuchs-Förderung betrifft, sind die beiden heute in einer Top-Position: 2020 haben sie von Jobst Hahn die Präsidentschaft des AKC übernommen. Für die Zukunft sind die beiden jungen Frauen optimistisch: »Ich bin sicher, dass uns die eine oder andere Paddlerin noch um die Ohren fahren wird«, sagt Lena. »Und darauf freue ich mich!«