Paddeltechnik

Seekajak Workshop VI

Sie können paddeln? Beherrschen Wildbäche oder haben schon längere Touren absolviert? Dann ist die hohe Schule des Seekajakfahrens der richtige Schritt, um ein kompletter Paddler zu werden, ein Meister aller Klassen. Der legendäre Nigel Foster erklärt in seinem siebenteiligen Workshop die wichtigsten Feinheiten und Unterschiede.

Strömung vs. Tidenhub
Als Strömung bezeichnet man einen gleichbleibenden Wasserfluss in eine Richtung. Meist denkt man dabei an Flüsse oder Bäche, aber auch auf dem Meer gibt es konstante Strömungsverläufe, wie etw­a den warmen Golf- oder den kalten Labradorstro­m. Diese Oberflächenströmungen strömen immer nur in eine Richtung.
Anders die Gezeiten: Sie unterliegen der Anziehungskraf­t des Mondes. Gäbe es keine Kontinente, würde diese Gravitation das Wasser der Erd­e in einem fortwährenden Kreislauf um den Globus zirkulieren lassen. Jedoch blockieren die Landmassen diesen Fluss und reflektieren das Wasser von ihren Küsten. Das Ausmaß dieser Dynami­k, bekannt als Ebbe und Flut, lässt sich anhand des Mondzyklus ziemlich genau berechnen. Für Seeleute, zu denen wir Kajakfahrer zählen, macht es also durchaus Sinn, konstante Meeres- von wechselnden Gezeitenströmungen unterscheiden zu können.

Der Kanalisierungseffekt
Presst man einen aufgedrehten Gartenschlauch am Auslass zusammen, erhöht man den Druck und das Wasser schießt schneller aus dem Schlauch. Genauso verhält es sich, wenn eine Landmasse eine Meeresströmung einengt. Nimmt dazu auch noch die Wassertiefe ab, wird dieser Beschleunigungseffekt noch verstärkt. Die dadurch entstehenden Gezeitenstromschnellen birge­n für Kajakfahrer gleichermaßen Gefahren- als auch Spaßpotenzial. Schon ein kurzer Blick auf die Seekarte mit Tiefenlinien verrät, wo solche Stromschnellen lauern beziehungsweise locken.

Wo Engstellen die Strömung beschleunigen, entstehen oft große Wellenzüge mit Kehrwassern. Zuerst nimmt die Fließgeschwindigkeit an der engsten Stelle zu, dahinter bildet sich meist eine saubere Zunge, an deren höchstem Punkt die Well­e schließlich bricht.

Eine ähnliche Auswirkung können markante Untiefen auf den Strömungscharakter haben. An diesen Überläufen, wie etwa hinter Felsriegeln, bilden sich zusätzlich oft brechende Wellen oder gar Walzen; dort wo der Meeresboden fast bis zur Wasseroberfläche reicht, können Kehrwasser mitte­n auf einer auf den ersten Blick freien Wasserfläche entstehen.

Einfluss auf Gezeitenströmungen
Reine Gezeitenströmungen unterliegen einem immer gleichen Muster: Aus dem fast stehenden Wasser baut sich die Strömung langsam auf, wird kräftiger, erreicht einen Höhepunkt und flacht dann zum Maximum der Flut wieder ab. Danach folgt ein ähnlicher Zyklus, nur eben in die andere Richtung (Ebbe).

Auch der Wind spielt beim Gezeitenpaddeln eine große Rolle. Bläst er mit der Tide, ist die See ruhiger, kommt er aus entgegengesetzter Richtung, türmen sich Wellen höher auf und brechen mit mehr Kraft. Rollt dazu auch noch die Dünung mit dem Wind und gegen die Tide heran, kann es schnell sehr ungemütlich werden.

»Übe immer bei gemäßigten Bedingungen und wage dich Schritt für Schritt an schwierigere Verhältnisse.«

Wer in Gezeitenströmungen paddeln möchte, sollte also zuerst einen Blick in den Tidenkalender werfen. Zur Springflut bei Voll- und Neumond werden die Strömungen stärker und die Wellen höher sein als zur sogenannten Nipptide bei Halbmond. Anhand der Niedrig- und Hoch­wasserwerte in der Gezeitentabelle kann man für den ausgewählten Küstenabschnitt ablesen, zu welcher Zeit die Strömung aus welcher Richtung kommt (Ebbe und Flut). Als Nächstes sollte man Wind und Dünung checken (s.?o.).

Walk the line
Wo Engstellen Stromschnellen entstehen lassen, gibt es auch Kehrwasser. Zwischen diesen und der Strömung liegt eine mehr oder weniger turbu­lente Zone. Gleich zu Beginn des Rapids ist diese Kehrwasserlinie noch schmal und definiert, sie wird jedoch zunehmend breiter und diffuser und damit schwieriger zu überwinden. Hinzu kommt, dass die Strömung auf dem Meer nie geradlinig verläuft, sondern hin- und herschiebt. Deshalb sollte man nicht einen ganz bestimmten Punkt anpeilen, an dem man ein Kehrwasser erreichen will. Besser man bleibt in der Strömung, bis diese nahe an die Küste oder das Hindernis drückt und die Kehrwasserlinie gut überwindbar erscheint.

Strudel
Häufig entstehen zwischen Kehrwasser und Strömung Strudel, die auf der linken Seite entgegen und auf der rechten Seite mit dem Uhrzeigersinn rotieren. Das ist deshalb wichtig, weil man als Paddler diese Drehung nutzen kann, um sich aus der Strömung ins Kehrwasser tragen zu lassen. Je weiter stromab, desto größer werden die Strudel, bevor sie schließlich auslaufen. Wer sich sicher fühlt, kann in ihnen mit dem Kajak Karussell fahren, doch Vorsicht – selbst unscheinbare Strudel können einen Schwimmer trotz Rettungsweste gefährlich lange unter Wasser ziehen.

Übungen zur Strömungslehre

  • Durchfahre die Kehrwasserlinie mit einer tiefe­n Paddelstütze und lege dich dabei wie beim Fahrradfahren in die Kurve. Mit etwas Übung wirst du dabei die Balance halten können, ohne das Paddel als Stütze zu brauchen. Je schneller du aus dem Kehrwasser herauspaddelst, desto geringer die Gefahr, dass dein Boot zu früh dreht und du im Kabbelwasser zwischen Kehrwasser und Strömung hängen bleibst.
  • Willst du über die Strömungszunge hinweg­traversieren oder in der Welle surfen, musst du in einem spitzen Winkel einfahren. Setze einen Rundschlag auf der strömungsabgewandten Seit­e genau in dem Moment, in dem du die Kehrwasserlinie passierst und halte diesen Schlag als Hecksteuerschlag, um dem Abdriften des Kajaks entgegenzuwirken.
  • Versuche auf der Kehrwasserlinie zu kreiseln­, ohne abgetrieben zu werden. Der Trick dabei ist, den Oberkörper exakt auf der Verschneidungs­linie zu halten, um so Heck und Bug gleicher­maßen vom Kehrwasser beziehungsweise der Strömung drehen zu lassen.
  • Willst du auf geradem Weg durch eine Gezeitenstromschnelle paddeln, gibt es zwei Grundregeln:
  1. Halte dich zwischen den Whirlpools, sie markieren zu beiden Seiten die chaotische Kehrwasserlinie.
  2. Paddle die Wellen möglichst gerad­e an ihrem höchsten Punkt an. Das »V« bildet genau die Mitte der Fahrtrinne. Orientiere dich am Wasser und nicht an der Küste, da der Strömungsverlauf wie oben beschrieben mäandert.

 

 

Zusammenfassung

  • Bläst der Wind gegen die Strömung, entstehen sofort deutlich höhere Wellen.
  • Auch die Dünung verstärkt den Seegang.
  • Beachte immer den Wetterbericht, bevor du aufs Wasser gehst!
  • Meeresströmungen können dich schnell und weit abtreiben, halte die Orientierungspunkte im Blick und achte besonders auf schwächere Mitpaddler. Paddeln auf See ist Teamwork!
  • Im Falle eines Schwimmers bleibe bei deinem Kajak und halte das Paddel hoch in die Luft, um auf dich aufmerksam zu machen.
  • Rettungsaktionen sind komplizierter, als du denkst. Riskiere nicht Kopf und Kragen, sondern übe bei gemäßigten Bedingungen und wage dich Schritt für Schritt an schwierigere Verhältnisse.